Irgendetwas ändert sich gerade in unserer Gesellschaft. Es ist schwer zu fassen, was es ist. Viele spüren das. »Merkwürdige Zeiten«, heißt es dann. Es sind einzelne Erlebnisse oder Gefühle, die aber den Eindruck nähren, dass sie sich irgendwann zu einem Gesamtbild formen könnten. Aber zu welchem Bild? Ich habe in der vergangenen Woche einen antisemitischen Vorfall öffentlich gemacht und viele Reaktionen bekommen. Sowohl der Vorfall als auch die Reaktionen zeichnen ein Bild.
Ich war mit Freunden feiern, in meiner Heimatstadt Hamburg, wir waren in einer Kneipe im noblen Pöseldorf. Ein paar Männer im Anzug hatten sich zu uns gestellt. Wie das Thema aufkam, weiß niemand mehr. Aber plötzlich waren diese Parolen da: »Juden raus« und »Alle Juden sollen vergast werden!«.
Ich stand direkt neben dem Mann und sagte ihm, dass ich Jüdin sei und er mich also ermorden will. »In dem Fall, ja!«, meinte er. Er konnte mir den grausamsten Tod wünschen und dabei in die Augen schauen. Er war nicht kahl geschoren, nicht pöbelnd, nicht zögernd, sondern selbstsicher, ruhig und mit einer Arroganz von »Ich-vertrete-die-Mehrheitsmeinung«.
Ohnmacht Schlimmer als die Morddrohung war die Situation danach. Die Ohnmacht, dass diese Herren es zunächst schafften, im Lokal zu bleiben. Die Überzeugungsarbeit, dass der Volksverhetzer rausgeschmissen werden muss. Der schlichte und wiederholte Ruf »Nazis raus« hat irgendwann die Bar-Angestellten überzeugt – oder genervt –, und die Täter wurden vor die Tür gesetzt.
In einem Kommentar in den ARD-Tagesthemen habe ich die Situation geschildert, habe von der Angst von Bekannten erzählt, in arabisch geprägten Vierteln in Berlin mit Kippa herumzulaufen, und von meinen Befürchtungen, dass Antisemiten sich durch Fremdenfeindlichkeits-Rhetorik von Pegida und Co. bestärkt fühlen könnten.
Fast 2000 Leute haben auf Facebook das Video kommentiert – eine außergewöhnlich hohe Zahl. Über 100 Einträge mussten gelöscht werden, darunter auch die unverbesserlichen (»Judensau«, »Wir müssen mal wieder klatschen gehen«). Von den freigeschalteten Kommentaren halten viele die Thematik an sich für ungerechtfertigt (»Ablenkungsmanöver vom Einwandererkrieg«). Sehr viele – auch in Zuschauermails – sehen Pegida ungerechtfertigt in ein schlechtes Licht gerückt. Für sie ist der Antisemitismus allein ein »eingewandertes Problem«. Pegida sei der beste Freund der Juden, schließlich habe man den gleichen Feind, den Islam (und gerne wird auf Israelfahnen bei Pegida-Demos verwiesen).
In meinem direkten Umfeld wurde ich für den Kommentar in den Tagesthemen gelobt. Sehr oft fiel das Wort »mutig«, verbunden mit der Frage, ob ich mir gut überlegt habe, meine Herkunft öffentlich zu machen. Tatsächlich habe ich bisher versucht, im Internet keine Spuren davon zu hinterlassen. Aber nur, falls ich einmal in ein Land reisen sollte, in dem Juden eindeutig unerwünscht sind. Eine Grundangst, wie der US-Journalist – und Jude – Daniel Pearl geköpft zu enden.
Pegida All diese Erlebnisse der vergangenen Tage haben mich verunsichert. Ich hätte nicht für möglich gehalten, dass mir jemand wegen meiner Abstammung einen grausamen Tod wünscht. So schamlos und in einer bürgerlichen Gegend. Ich hätte auch nicht gedacht, dass die Reaktion auf den Kommentar aus so viel dummem Pöbel-Hass besteht, aus so viel Pegida-Sympathie und Behauptungen, Antisemitismus sei nicht »deutsch«. Auch hat mich verunsichert, dass offenbar viele meinen, ich sollte besser verschweigen, dass ich Jüdin bin. Die »Je suis Charlie«-Aufkleber erscheinen mir plötzlich ziemlich nichtssagend.
Mein Bild aus diesen Puzzleteilen: Die Stimmung radikalisiert sich. Die Flüchtlingsdebatte spaltet die Politik. Und in der Gesellschaft nutzen Populisten die Gunst der Stunde. Schwarz-Weiß-Denken ist angesagt. Statt zu versuchen, die Grautöne aufzuhellen, verschanzt sich jeder in seiner sozial-medialen Informationsblase. Dort gilt sowieso: je zugespitzter, desto besser. Aber nicht nur dort. Politiker aller Lager sprechen in großen Tönen sogar von Staatsversagen. Vertrauen in die Politik und staatliche Institutionen schwindet.
Unsicherheit ist ein verbreitetes Gefühl. Für Juden sind das keine guten Zeiten. Jeder fünfte Deutscher ist latent antisemitisch, stellte noch vor vier Jahren ein Antisemitismus-Bericht des Bundestages fest. Heute wird berichtet, dass dieser Prozentsatz konstant geblieben sei. Für manche mag dies tröstlich erscheinen. Für Juden, die für solche atmosphärischen Veränderungen in der Gesellschaft einen sechsten Sinn haben und daher oft als »Kanarienvögel im Bergwerk« bezeichnet werden, wird die Luft immer dünner. Manche sollen schon auf gepackten Koffern sitzen. Meine sind noch immer auf dem Dachboden verstaut. Ich bin entschlossener dann je, hier und jetzt dem Antisemitismus die Stirn zu bieten.
Die Autorin ist Fernsehkorrespondentin im ARD-Hauptstadtstudio.