Als die Sonne unterging, riss die Wolkendecke über Weimar auf. Der Schabbat endete, die Ratsversammlung des Zentralrats der Juden in der Stadt der Klassik konnte unter einem aufgeklarten Himmel beginnen. Zuvor aber stand noch ein Abstecher nach Erfurt auf dem Programm. Die Delegierten fuhren in die Landeshauptstadt, um der Ehrung des Vorsitzenden der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen, Wolfgang Nossen, beizuwohnen. Der 80-Jährige erhielt aus der Hand von Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht den Thüringer Verdienstorden.
aufbruch Strahlend, jung, dynamisch – so wie Dieter Graumann, seit einem Jahr Präsident des Zentralrats, das neue Judentum erleben und leiten möchte, so klar zielgerichtet und straff erfolgte dann auch die Ratsversammlung, die leicht verspätet traditionell mit dem festlichen Abendessen begann.
Rauchschwaden von den Würstchenständen zogen vom Weihnachtsmarkt bis vor das Grandhotel »Russischer Hof«, wo einst Zar Alexander I., Franz Liszt oder Clara und Robert Schumann genächtigt hatten und in dem das gemeinsame Essen stattfand. Üblicherweise wird es zu ersten Vor- und Sondierungsgesprächen genutzt. Doch die, so schien es am nächsten Tag, waren an diesem Abend kaum nötig. Denn Dieter Graumann hatte nach nur 364 Tagen im Amt Großes zu berichten.
erfolg Statt mit den bisherigen fünf Millionen Euro wird die Arbeit des Zentralrats künftig von der Bundesregierung mit jährlich zehn Millionen Euro unterstützt. Das entspreche einer Verzehnfachung in zehn Jahren. Als er daran gearbeitet und Zukunftspläne geschmiedet habe, »haben wohl einige gesagt: Jetzt ist er übergeschnappt«. Vielleicht, so der Zentralratspräsident weiter, zähle manchmal der Instinkt mehr, eine letzte große Chance zu erkennen, um einen großen Schritt zu wagen, als jede sachliche Analyse. Er wehrte jedoch alle Begehrlichkeiten, die nun daraus entstehen könnten, gleich ab. »Wir wollen einen neuen Zentralrat bauen«, sagte er, »und wir wollen die Zukunft sichern«.
Hierzu wünschte auch Bundeskanzlerin Angela Merkel dem Zentralrat »ein gutes Gelingen«. Von dem Jugendkongress und der Ratsversammlung, die gemeinsam veranstaltet wurden, gehe ein »starkes Signal aus«, sagte Merkel in einer Videobotschaft. Dies zeige ein wiedererstarktes Fundament des Judentums, bei dem sich junge Menschen zur Teilhabe ermutigt fühlen können, und ein gutes Miteinander der Generationen.
Rabbiner Er sei gewohnt zu predigen, und dafür gäben ihm seine Gemeindemitglieder 30 Minuten Zeit. Nur ein Zehntel der Zeit zur Verfügung zu haben, komme ihm äußerst knapp vor, sagte Rabbiner William Wolff bei seinem Grußwort, das er anstelle von Sprecher Henry G. Brandt für die Allgemeine Rabbinerkonferenz (ARK) hielt. Diese drei Minuten nutzte der Mecklenburger Landesrabbiner für einen eindringlichen Appell zur Gemeinsamkeit und Einheit im Judentum. Jeder Beschluss, der in dieser Aufbauphase getroffen werde, habe eine neue Qualität, die bei aller unterschiedlich ausgeprägten Frömmigkeit nur eines zum Ziel haben kann – Mitglieder eines deutschen Judentums zu sein. Wolffs Herzenswunsch: Zusammengehörigkeit und Einheit zu zeigen.
Rabbiner Jaron Engelmayer von der Orthodoxen Rabbinerkonferenz (ORD) schlug den gleichen Ton an, als er die Geschichte des müden Wanderers erzählte, der sich einem Fuhrmann anvertraut und dabei Weg und Ziel aus den Augen verliert. »Die Tora gibt uns einen Weg vor«, sagte der Kölner Rabbiner. Schwung und die Dynamik des heutigen Judentums gelte es nach innen und nach außen zu zeigen. »Das Judentum ist nicht mehr ausgetrocknet, nicht zahlenmäßig und nicht religiös«, betonte Engelmayer. Man sei auch in der Zusammenarbeit mit dem israelischen Oberrabbinat beachtet und geachtet. »Religiöse Entscheidungen werden akzeptiert.«
npd In seiner Rede blickte Zentralratspräsident Dieter Graumann auf das erste Jahr seiner Präsidentschaft zurück. Er habe schon in diesem einen Jahr einen Akzentwechsel herbeigeführt, und dennoch habe er immer wieder auch auf Schwachstellen hinweisen müssen. In Graumanns Fokus stehen dabei die Linkspartei, die ihren Israel-Hass ablegen müsse, und die NPD, die immer noch das Parteienprivileg genieße. Seine Forderung »Sie gehört verboten« erhielt spontanen Applaus.
Mit Blick auf die aktuelle Situation im Nahen Osten sagte Graumann, dass deutsche Juden sehr oft nach wie vor einen Beschützerinstinkt entwickelten, wann immer der jüdische Staat in Not gerate. »Wir sind keine Israel-Agentur, das ist die Botschaft, aber Israel muss uns am Herzen liegen.« Graumann betonte, dass man für die Freilassung von Gilad Schalit kräftig Druck gemacht habe. Auch von der UN-Konferenz »Durban III« habe die Bundesregierung erst nach kraftvoller Intervention des Zentralrats abgelassen.
Außenminister Guido Westerwelle habe damals erst in letzter Minute abgesagt. »Wir werden gehört, die politische Stellung des Zentralrats ist stark«, versicherte Graumann den Gemeinderepräsentanten. Doch bei den immer noch bestehenden engen Wirtschaftsbeziehungen Deutschlands zum Iran sei der Zentralrat noch nicht so weit gekommen, wie er es sich erhofft habe.
jugend Dieter Graumann hatte das Experiment gewagt, erstmals den Jugendkongress und die Zentralratssitzung miteinander zu verknüpfen. Die Jugend nahm das Angebot, nahe bei den Delegierten zu sein, an. Trotz Saturday Night Party, die bis zum Morgen dauerte, kamen rund 80 Jugendliche zur Podiumsdiskussion am Sonntag, die erstmals Teil der Ratsversammlung war.
»Jung und alt im Dialog«, das brachte das Podium zusammen. Es bestand aus Ebi Lehrer, Vorstandsvorsitzender der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland, Alexandra Kattein, Vorsitzende des Bundesverbandes jüdischer Studenten, Jonathan Walter vom Studentenverband Baden, Michelle Piccirillo vom Vorstand der Union progressiver Juden, dem Sozialpädagogen Doron Kiesel und dem Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik. Heiß diskutiert wurden Art, Konzept und Anspruch von Jugendarbeit, Vertrauen in die Jugend und die Anleitung und Begleitung junger Menschen, um sie zu Führungspersönlichkeiten heranzubilden, sowie das Verhältnis junger Juden zu Israel.
debatte Die rund einstündige Diskussion zeigte deutlich, dass sich die jungen Erwachsenen Respekt und Anerkennung in ihrem Engagement wünschen – aber auch Hilfe und Unterstützung von den Gemeinden. Eindringlich appellierte Jonathan Walter, die E-Mails und Einladungen, die er den Gemeinden schicke, auch an die Mitglieder weiterzuleiten. »Sekretariate sind keine Filter«, betonte der Gründer des Badischen Studentenverbands. Alexandra Kattein regte an, lokale Studentengruppen zu bilden und zu kooperieren.
Aus der Erfahrung, dass der Einsatz der jungen Leute nach kurzer Zeit erlahme, rief Ebi Lehrer dazu auf, Konzepte weiterzuschreiben und Ausdauer zu beweisen. Doron Kiesel forderte die Professionalisierung der Gemeinden und die Vermittlung klarer Strukturen, gerade für die Zuwanderer. Micha Brumlik will eine große Konferenz über die Zukunft des Judentums zusammenrufen und regte an, über eine Patrilinearität für Juden in Deutschland nachzudenken, ob also auch Menschen, bei denen nur der Vater jüdisch ist, als Juden gelten können. Sein Vorschlag brachte Brumlik viel Protest im Saal ein.
haushalt Dass Jugendkongress und Ratsversammlung auch zum Ort der Kontroversen wurde, fand viel Anklang. »Das Experiment mit dem Doppelansatz Alt und Jung ist gelungen«, war die einhellige Meinung. Und die erforderlichen Punkte einer Ratsversammlung wurden unter der Regie von Avi Pitum gut abgearbeitet. Der Haushalt etwa wurde ohne weitere Aussprache einstimmig angenommen.
Dieter Graumann konnte am Sonntagabend zufrieden auf die Tagung zurückblicken. »Ich glaube schon, wir sind auf dem richtigen Weg«, sagte Graumann. »Wir müssen uns jetzt um unsere jungen Menschen kümmern. Die jungen Menschen haben hier nicht nur Party gemacht, sondern waren aktiv bei den Workshops dabei.« Das Vorurteil, Jugendliche hätten »eher Disco als Diskussion im Kopf«, sieht Graumann widerlegt: »So ist es überhaupt nicht.« Stattdessen freut er sich über den »Hunger nach Engagement, eine Sehnsucht, sich einzubringen« bei der jüdischen Jugend.
So ganz am Ende eines erfolgreichen Wochenendes formulierte Dieter Graumann sein Fazit in einem Satz: »Das müssen und werden wir auf jeden Fall wiederholen.«