»Wir werden vergast! Wir werden verbrannt!« Was wie verzweifelte Rufe in einem NS-Vernichtungslager klingt, war in Wirklichkeit ein Vierteljahrhundert später zu hören: In der Münchner Reichenbachstraße stand im Februar 1970 ein jüdisches Gemeindezentrum in Flammen. Sieben Bewohner der dortigen Altenwohnungen, mehrere von ihnen Schoa-Überlebende, kamen dabei um. Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde, die alle Opfer persönlich kannte, erinnert sich: »Es war schrecklich.«
Trotz intensiver Ermittlungen der Polizei konnten die Täter nie ermittelt werden. Lange wurden Neonazis als Täter vermutet. Das Magazin Focus berichtete vergangene Woche von einem neuen Zeugen sowie Indizien, weswegen die Münchner Staatsanwaltschaft eine Wiederaufnahme der Ermittlungen prüfe. Laut Focus stehen als Urheber die »Tupamaros München« im Verdacht – eine Vorläufergruppe der RAF. Der Hamburger Historiker Wolfgang Kraushaar hat ein Buch zu dem Fall verfasst, das demnächst erscheinen soll. Bereits vor sieben Jahren veröffentlichte der Wissenschaftler Die Bombe im Jüdischen Gemeindehaus. Darin untersuchte er die Hintergründe eines versuchten Anschlags in der Berliner Fasanenstraße.
Dort war am 9. November 1969, am Jahrestag der »Kristallnacht«, eine Brandbombe deponiert worden, die zum Glück nicht zündete. In einem Flugblatt bekannten sich die »Schwarzen Ratten/Tupamaros Westberlin« zu der Tat. Kraushaars Recherchen zufolge war der Kopf der Gruppe, Dieter Kunzelmann, zugleich Drahtzieher des Anschlags.
Genossen Stand Kunzelmann auch hinter dem Anschlag in München? Schon damals gab es laut Kraushaar eine erfolglose Durchsuchung der Wohngemeinschaft des ehemaligen Berliner Kommunarden Fritz Teufel, der inzwischen Kopf der Münchner »Tupamaros« war. Michael »Bommi« Baumann, um 1970 in ähnlichen Zusammenhängen wie Kunzelmann und Teufel unterwegs, sagte der Jüdischen Allgemeinen, seine Berliner Gruppe habe nicht geglaubt, dass die Münchner Genossen hinter dem Anschlag auf die Reichenbachstraße steckten. Man habe aber sicherheitshalber nachgefragt. Ergebnis: Die dortigen Genossen waren es nicht, »für den Fritz Teufel leg’ ich meine Hand ins Feuer«, so Baumann. Kunzelmann hingegen hätte er die Aktion zugetraut, der habe sich zu der Zeit aber »leider in Berlin« aufgehalten.
Auch die Münchner Staatsanwaltschaft rückt von der Darstellung des Focus ab. Der angeführte Zeuge sei schon seit 2007 bekannt, seine Aussagen hätten sich als unzutreffend herausgestellt, es gebe derzeit keine erfolgversprechende neue Spur. Am kommenden Dienstag läuft in der ARD ein Film von Georg M. Hafner, der sich ebenfalls mit der Thematik befasst. Der sehr persönliche Film nähert sich den vier zwischen dem 10. und 21. Februar 1970 erfolgten Anschlägen über Rudolf Crisolli, den Onkel Hafners, der bei einem der Attentate ums Leben kam. Der Fernsehreporter saß in einem Flugzeug der Swiss Air von München nach Tel Aviv. Alle Insassen starben beim durch eine Bombe verursachten Absturz. Die Passagiere einer Maschine der Austrian Airlines entgingen nur knapp dem gleichen Schicksal.
Beide Attentate wie auch die versuchte Entführung eines El-Al-Fluges waren von Palästinensern der Fatah verübt worden. Möglicherweise halfen die »Tupamaros« ihnen und verübten zwischendurch einen eigenen Anschlag. Vielleicht hatten sie mit allen vier Attentaten gar nichts zu tun. Bislang gibt es mehr offene Fragen als Antworten.
»München 1970«. Ein Film von Georg M. Hafner,
Das Erste, 17. Juli, 22.45 Uhr