Vor drei Jahren begann mit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine der blutigste Krieg in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Die Ergebnisse sind entmutigend, auch für die jüdische Gemeinschaft des Landes. Doch gerade in diesen Tagen werden die Konturen der künftigen Nachkriegsordnung festgelegt, wenn auch noch sehr schematisch.
Es ist unwahrscheinlich, dass wir uns auf momentane Prognosen verlassen können, denn es gibt im Moment zu viele Unbekannte und Trumps Ideen und Absichten sind zu vage. Aber die Aussichten sind nicht sehr ermutigend. Zumindest nach der Häufigkeit zu urteilen, mit der der Inhaber des Oval Office die Formulierung »sie (die Ukraine) werden müssen« verwendet. Sie wird mehrere Gebiete an den Aggressor abtreten müssen, die NATO-Mitgliedschaft aufgeben, die Hilfe der Vereinigten Staaten mit ihren nationalen Ressourcen bezahlen müssen usw.
Wie jedoch Umfragen zeigen, die vor Trumps jüngsten Äußerungen durchgeführt wurden, haben die Ukrainer im Allgemeinen positiv auf die Amtseinführung des 47. amerikanischen Präsidenten reagiert – möglicherweise in der Hoffnung, dass der bloße Wechsel an der Spitze des Weißen Hauses den Verhandlungsprozess fördern würde. Dies geschah auch, allerdings unter für die Ukraine ungünstigen Bedingungen.
Rolle eines unberechenbaren Herrschers
Parallel dazu ändert sich die Einstellung zu territorialen Zugeständnissen: Heute sind fast 40 Prozent der ukrainischen Bürger dazu bereit, wobei etwa die Hälfte die Idee eines Kompromisses unter Vermittlung ausländischer Führer zur Beendigung des Krieges unterstützt. Dennoch ist es schwer zu glauben, dass die Kunst des Deals zu einem gerechten Frieden führen wird. Die Sache ist wahrscheinlich anders. Da Trump die Rolle eines unberechenbaren Herrschers spielt, könnte er eine echte Gefahr für Putin darstellen, der seine Unbeherrschtheit ebenfalls ausnutzt.
Erst vor ein paar Monaten erzählte der damalige Präsidentschaftskandidat Trump, wie er »Wladimir« einmal gedroht hatte, »mitten in Moskau« zuzuschlagen, wenn der Kremlchef die Ukraine nicht in Ruhe ließe. Trump fügte auch hinzu, dass sowohl Xi Jinping als auch Putin wüssten, dass er, Donald John, »fucking crazy« sei. Darauf verlässt er sich – und nicht auf das Talent eines erfahrenen Geschäftsmannes.
Wie haben sich drei Jahre Krieg auf die Juden in der Ukraine ausgewirkt? Zunächst einmal müssen wir bedenken, dass die größten jüdischen Gemeinden des Landes im Osten, im Süden und teilweise in der Zentralukraine konzentriert sind. Und es waren diese Regionen, die am stärksten betroffen waren. Einige Gemeinden verließen praktisch vollständig das Land (z. B. Mariupol), andere verloren nach subjektiven Schätzungen zwischen einem Drittel und 40 Prozent ihrer Mitglieder (Charkiw, Odesa, Dnipro), aber in Winnyzja oder Irpin ging die Zahl der Juden nur um 10-15 Prozent zurück.
Nachfrage nach jüdischen Aktivitäten
Gleichzeitig hat die Teilnahme an verschiedenen jüdischen Programmen selbst in den stark ausgedünnten Gemeinden nicht abgenommen. Manchmal ist dies auf jüdische Flüchtlinge aus den besetzten Gebieten oder Hotspots in den ukrainisch kontrollierten Gebieten zurückzuführen. Aber nicht nur das.
In Odesa, so die stellvertretende Direktorin des »Migdal«-Zentrums Polina Blinder, ist die Nachfrage nach jüdischen Aktivitäten sogar gestiegen. Und zwar von lokalen Glaubensgenossen, die zuvor vom Gemeindeleben ausgeschlossen waren. Das ist zum Teil erklärbar - die Menschen strömen zu Vorträgen und Konzerten, suchen Kommunikation und versuchen, sich vom Krieg abzulenken. Ein ähnlicher Prozess ist in Charkiw zu beobachten. Ja, es mag ein anderes Publikum sein, aber sowas gibt es.
Werden die ukrainisch-jüdischen Flüchtlinge aus Deutschland, Polen, Österreich und anderen europäischen Ländern nach dem Abschluss des Friedens oder eines Waffenstillstands zurückkehren? Ist eine Rückkehr aus Israel realistisch? Meiner Meinung nach nicht.
Verhöre durch den FSB
Unter den Teilnehmern des Projekts Exodus-2022 befinden sich natürlich auch Flüchtlinge, die in die Ukraine zurückgekehrt sind - nach Kiew, Charkiw und Dnipro. Zum Beispiel der berühmte Historiker, Träger des Preises der Nationalen Akademie der Wissenschaften der Ukraine und des Ordens »Für Verdienste um Deutschland«, Leiter der Allukrainischen Vereinigung der Juden - ehemalige Gefangene der Ghettos und Konzentrationslager der Nazis, Boris Zabarko, der zu Beginn des Krieges nach Stuttgart evakuiert wurde.
Oder eine junge Aussiedlerin aus Mariupol, die eine äußerst schwierige Reise durch Russland nach Israel unternahm und dabei unter anderem Verhöre durch den FSB erlebte. Dieses Mädchen kehrte 2023 in die Ukraine zurück und mietete eine Wohnung bei ihren Eltern in Kiew. Ein kleiner Teil der Repatriierten hat sich aus verschiedenen Gründen nicht in Israel niedergelassen - schlechte Behandlung eines Kindes in der Schule, Unruhe, Bürokratie, usw. Sie verlassen auch Europa, manchmal sogar aufgrund von Problemen mit der medizinischen Versorgung.
Einige leben im Ausland und in der Ukraine oder kommen her, um in ihren Städten jüdische Feiertage zu begehen, wie z. B. der Oberrabbiner der Gemeinden des progressiven Judentums in Kiew und der Ukraine, Alexander Dukhovny, oder die Vorsitzende der Gemeinde, Irpin Alla Kremenchuk.
Rettung vor russischen »Befreiern«
Die überwältigende Mehrheit der Flüchtlinge baut sich jedoch irgendwie ein Leben an ihrem neuen Ort auf und wächst in die Realitäten des Landes, in dem sie leben.
Haben sie dies angestrebt? Nein, die meisten Militärrückkehrer hatten nicht vor, zu gehen, aber die Geschichte hat für sie entschieden. Mehr als einmal habe ich von Gesprächspartnern etwa Folgendes gehört: »Sie haben uns von allem befreit: vom friedlichen Leben, vom Haus, vom Eigentum, von der Arbeit. Obwohl wir niemanden angerufen haben und niemand uns unterdrückt hat.«
Tatsache ist, dass vor drei Jahren noch niemand daran dachte, vor den mythischen ukrainischen »Nazis« zu fliehen. Aber im März 2022 verließen Zehntausende von Juden ihre Heimat, um sich vor den russischen »Befreiern« zu retten.
Leitung von Werkstätten
Jeder Flüchtling hat »sein« Israel, »sein« Europa und die Vereinigten Staaten. Eine Rückkehrerin aus Mariupol bereut »keine Minute, dass sie nicht nach Europa gegangen ist, denn hier in Israel behandelt man uns wie Menschen, die in ihre Heimat zurückgekehrt sind.« Eine andere hingegen »hätte nie gedacht, dass es in einem so heißen Land so furchtbar kalt sein kann«. Die Gefühle hängen weitgehend vom Erfolg der Integration ab.
Der Ehemann einer Neu-Rückkehrerin macht große Fortschritte in Hebräisch, wurde kürzlich zum Brigadier ernannt, und der Chef wird sogar eigens eine Stelle für ihn schaffen und ihm die Leitung von drei Werkstätten übertragen. Dementsprechend (aber nicht nur deshalb) ist die Akzeptanz in dieser Familie sehr hoch.
»Wir haben Israel sehr lieb gewonnen«, so die Frau. »Ich weiß noch, wie Ruslan und ich einmal auf dem Balkon saßen und er sagte: ›Gott, was haben wir für ein Glück, dass wir in diesem schönen Land sind.‹ Ich vermisse Mariupol nicht - es ist nicht mehr meine Stadt. Die Leichen meiner Landsleute lagen auf den Straßen, und ich werde sie nicht mehr betreten können.«
»Ich vermisse Israel«
Zur gleichen Zeit nahmen mehrere jüdische Gemeinden in Deutschland, Österreich und anderen europäischen Ländern ihre Glaubensbrüder aus der Ukraine sehr herzlich auf. Von staatlicher Hilfe ganz zu schweigen.
Andererseits lassen sich nicht alle Probleme auf die Ansiedlung und den materiellen Wohlstand reduzieren. Drei Jahre lang können sie eine jüdische Geschäftsfrau aus Mariupol in Israel nicht als Jüdin anerkennen.
Weder die Dokumente von 1944, die die Nationalität ihrer Großmutter Raisa Moiseevna bezeugen, die wiederum damals aus dem Ghetto von Swenigorodka geflohen war, noch die Mitgliedschaft in der jüdischen Gemeinde oder die Hinweise auf die Kinder helfen. Ihr Sohn wurde in der Kiewer Brodsky-Synagoge beschnitten, ihre Tochter wurde ohne Probleme in der Beit Ulpana-Schule in Jerusalem aufgenommen.
Nach der direkt vom vom Ben-Gurion-Flughafen erfolgten Abschiebung ihres Sohnes, der zu Besuch kam – und zwar mit einer Einladung und einem Rückflugticket –, konnte die Frau es nicht mehr ertragen, nahm ihre Tochter und flog mit einem Patenschaftsvisum in die USA: »Jetzt leben wir in Philadelphia, und finanziell ist alles großartig - ich habe ein Auto und wohne in einem schönen Haus. Aber dies ist nicht mein Land«, so die gescheiterte Rückkehrerin. »Ich vermisse Israel, wo ich mich zu Hause fühlte.«
Ukrainische Nachrichten in Echtzeit
Immer häufiger verbleiben Menschen, die einen legalen Status in Israel erlangt haben, geistig im Spannungsfeld zwischen ihrer alten und ihrer neuen Heimat. »Heute bin ich zwischen zwei Ländern hin- und hergerissen, und beide Hymnen - die der Ukraine und die Israels - treiben mir die Tränen in die Augen«, gesteht Irina Zhivolup aus Izium, deren gesamte Familie durch den russischen Beschuss ums Leben kam.
»Jeden Abend gehe ich ans Meer, um den Sonnenuntergang zu bewundern.
Ich habe mich sogar an die Narben gewöhnt und betrachte sie als Erinnerung an die russische Welt. Aber ich will mich nicht entspannen.
Wenn beide Kriege zu Ende sind, werde ich feiern, hier und dort. Und vielleicht werde ich weinen.«
Die Anziehungskraft des verlassenen Hauses ist kein ausschließlich israelisches Phänomen. Auch in Deutschland verbringen viele Flüchtlinge Stunden auf verschiedenen Websites und Fernsehkanälen und verfolgen die ukrainischen Nachrichten praktisch in Echtzeit.
Der Tag danach
Niemand kann jedoch das Ausmaß der ukrainisch-jüdischen Wiedereinwanderung aus Europa oder der Neschira aus Israel bis zum Ende der Militäraktionen in der Ukraine berechnen. Das Problem der durch den Krieg auseinandergerissenen Familien bleibt bestehen, aber selbst in diesem Fall ist es verfrüht, Vorhersagen für den Tag danach zu treffen.
Immerhin können Familien in Israel oder Deutschland wieder zusammenkommen - den beiden Ländern, die die meisten jüdischen Flüchtlinge aufgenommen haben. Und im Moment halten viele Emigranten aus verschiedenen ukrainischen Städten die Verbindung zu den »Ihren« aufrecht, wohin auch immer das Schicksal sie geführt hat.
Dieselben Einwohner von Mariupol versammeln sich in Israel zu Schabbaton-Veranstaltungen, die von Rabbiner Menachem-Mendl Cohen organisiert werden, der eine führende Rolle bei der Evakuierung der Gemeinde spielte.
Zeit für echte Veränderungen
Ehemalige Gemeindemitglieder der Brodsky-Synagoge in Kiew haben in Israel eine spezielle WhatsApp-Gruppe eingerichtet, in der man Beratung, Hilfe, Kleidung usw. erhalten kann. In Haifa hat sich nach und nach eine Gemeinde gebildet, die sich an der reformorientierten »Tikvah« in Kiew orientiert.
Das Einzige, was mit Sicherheit gesagt werden kann, ist, dass sich die Dynamik der Ereignisse auf der russisch-ukrainischen Schiene mit Trumps Ankunft deutlich beschleunigt hat. Daher wird in einigen Monaten (oder sogar schon früher) die Zeit für echte Veränderungen kommen, die die Zukunft der Ukraine und teilweise die Pläne der Militär-Flüchtlinge weitgehend bestimmen werden.
Michael Gold ist Journalist, Chefredakteur der jüdischen Publikation »Hadashot« in Kiev und Gründer des Projektes »Exodus-2022«.