Flüchtlinge

Sicher in Deutschland?

Befristeter Aufenthalt: Bis zu 500 Flüchtlinge kommen vorübergehend in der Hanns-Martin-Schleyer-Halle in Stuttgart unter. Foto: dpa

Der Sommer 2015 scheint ein Tränen- und Gänsehautsommer zu werden. Es gibt keine richtigen und keine falschen Emotionen, doch die Grenze zwischen dem Wunsch, anderen zu helfen, und dem Streben der deutschen Öffentlichkeit, sich in eigener Ergriffenheit zu ertränken, ist äußerst dünn.

Sie bewegt sich zwischen den Beinahe-Tränen von Claus Kleber über das Flüchtlingsdrama, die anscheinend mehr Mitleid hervorriefen als die Bürgerkriegsflüchtlinge selbst, den Empörungswellen und substanzlosen politischen Vorhaltungen an die Politiker, meist ohne Sinn für die Komplexität der Lage, bis hin zum Internetkreuzfeuer, das der unglücklich ehrliche Til Schweiger abbekam.

Tränen Die politische Betroffenheits- und Hasskultur verdeckt jedoch den wahren Schauder der vergangenen Monate. Sie verdrängt die Gänsehaut, die die Drohungen und Angriffe gegen Flüchtlinge und ihre Unterkünfte in Deutschland auslösen, die Tränen, die einem beim Anblick sinkender Schiffe mit ganzen Flüchtlingsfamilien und erschöpfter Geretteter in die Augen schießen. Und eben diese Rührung stellt sich ein bei Menschen, die etwas Richtiges und etwas Wichtiges für andere tun, statt sich zu empören: Kleider sammeln, Deutsch unterrichten, Menschen beraten oder zu Hause aufnehmen. Das sind die wirklich bewegenden Emotionen dieses Sommers.

Politische Gegner zerfleischen sich über die Fragen, welche Länder zusätzlich als sicher gelten können und welche Erleichterungen die Politik im Gegenzug den Flüchtenden aus »echten« Krisenstaaten garantieren muss. Aber neben der Frage der sicheren Herkunftsstaaten bleibt die Frage unbeantwortet, ob Deutschland überhaupt ein sicherer Ankunftsstaat ist.

Wer jemals in einem Krisengebiet gelebt hat und sich darüber nicht lediglich über Arte-Dokumentationen informiert, der weiß die Lage in Deutschland 2015 sehr wohl zu schätzen. Auch eine Unterkunft mit einer Gemeinschaftsküche oder einem Bett unter einem Zeltdach kann für einen Kriegsflüchtling Erleichterung bringen. Vorausgesetzt, er und seine Kinder fühlen sich von Nachbarn willkommen geheißen und haben eine Zukunftsperspektive.

Integration
Eine Perspektive über den Sommer hinaus heißt ganz konkret: ein festes Dach über dem Kopf. Noch ist Sommer, doch schon sehr bald wird es kälter und nasser. Mittelfristig stellt sich also die Frage, wie Deutschland den fliehenden Menschen eine menschenwürdige Unterbringung und eine Integrationsperspektive bieten kann. Die zahlreichen gutgemeinten Wünsche übersetzen sich nicht immer in gutgemachte Vorschläge.

Beispiel: Der Wunsch nach einer sofortigen dezentralen Unterbringung der Fluchtfamilien berücksichtigt nicht, dass zentrale Unterbringungsstätten zumindest in der Anfangsphase des Lebens in Deutschland wichtige Funktionen erfüllen. Denn nur hier gibt es Informationen und gegenseitigen Erfahrungsaustausch. Wenn Flüchtlingen soziale Kontakte fehlen, drängt sie eine dezentrale Unterbringung in die Isolation und sorgt für Informationsdefizite: Wo einkaufen? In welche Schule die Kinder schicken? Wie und wo rechtzeitig Anträge stellen? Eine Dezentralisierung kann nur dann Erfolg haben, wenn zugleich eine persönliche Betreuung der Untergebrachten gewährleistet werden kann. Doch ist das bei bis zu 750.000 zu erwartenden Flüchtlingen in diesem Jahr überhaupt realistisch?

Wir sollen Gutes tun, ohne naiv zu sein. Wir sollen helfen, ohne in unserer Ergriffenheit politische Verantwortung gegenüber den Menschen in Not zu vernachlässigen. Wir sollen helfen, ohne die Flüchtlinge selbst durch unser Streben nach Gutmenschentum zum wiederholten Mal zu dehumanisieren.

Bildung Es sind Menschen, die zu uns kommen, keine Heiligen. Auch sie lieben und hassen, arbeiten und lungern herum. Manche sind fleißig, andere faul, manche leiden, manche lügen. Manche werden in Deutschland gut ankommen und dieses Land bereichern. Viele andere aber auch nicht. Manche Kinder werden schnell Deutsch lernen und Ärzte oder Schriftsteller werden. Andere Kinder werden zu »Problemfällen« an überfüllten Schulen.

Manche werden Unternehmer, andere Kriminelle, und manche werden beides, ganz so wie viele Deutsche in unserem Land. Und ja, viele von den Ankömmlingen von heute könnten eines Tages auf deutschen Straßen gegen Israel oder gar gegen Juden marschieren. Ganz so, wie es zahlreiche Menschen mit Wurzeln im Nahen Osten oder der Türkei im vergangenen Sommer taten. Auch das gehört zur Realität.

Aber das ist zurzeit egal, denn die meisten kommen nicht nach Deutschland, um uns zu gefallen. Sie fliehen nach Deutschland, um ihr eigenes Leben und das Leben ihrer Kinder zu retten. Wer diese Menschen pauschal für gute Menschen hält, hat keinen Kopf. Wer ihnen ein Recht auf Leben und auf Sicherheit absprechen will, hat kein Herz. Und ehe wir den Kopf einschalten, müssen wir beweisen, dass wir ein Herz haben.

Über Integrationsprobleme müssen wir später reden. Das steht auf einem anderen politischen Blatt – übrigens neben den Kapiteln über den politischen Umgang mit rechtsradikalen Jugendlichen in der Sächsischen Schweiz oder den deutschstämmigen Randalierern vom Alexanderplatz. Aber erst einmal schlagen wir das Kapitel eins des politischen Buches auf. Und dieses Kapitel heißt Menschlichkeit.

Der Autor ist Anwalt und Publizist in Berlin.

Meinung

Ein Bumerang für Karim Khan

Die Frage der Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshof für Israel muss erneut geprüft werden. Schon jetzt ist klar: Der Ruf des Gerichts und seines Chefanklägers wird leiden

von Wolf J. Reuter  25.04.2025

Meinung

Die UN, der Holocaust und die Palästinenser

Bei den Vereinten Nationen wird die Erinnerung an den Holocaust mit der »Palästina-Frage« verbunden. Das ist obszön, findet unser Autor

von Jacques Abramowicz  25.04.2025

80 Jahre nach Kriegsende

»Manche Schüler sind kaum noch für uns erreichbar«

Zeitzeugen sterben, der Antisemitismus nimmt zu: Der Geschichtsunterricht steht vor einer Zerreißprobe. Der Vorsitzende des Verbands der Geschichtslehrerinnen und -lehrer erklärt, warum Aufgeben jedoch keine Option ist

von Hannah Schmitz  25.04.2025

Washington D.C.

Trump beschimpft Harvard als »antisemitische, linksextreme Institution«

Der US-Präsident geht vehement gegen Universitäten vor, die er als linksliberal und woke betrachtet. Harvard kritisiert er dabei besonders heftig

 25.04.2025

Berlin/Jerusalem

Herzog kommt in die Bundesrepublik, Steinmeier besucht Israel

Der Doppelbesuch markiert das 60-jährige Jubiläum der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen den beiden Ländern

 25.04.2025

«Nie wieder»

Dachauer Gedenkstättenleiterin warnt vor ritualisierten Formeln

Die KZ-Gedenkstätte Dachau erinnert am 4. Mai mit einer großen Feier mit 1.800 Gästen an die Befreiung des ältesten Konzentrationslagers durch amerikanische Truppen am 29. April 1945

von Susanne Schröder  25.04.2025

Geschichte

Bundesarchiv-Chef warnt vor dem Zerfall historischer Akten

Hollmann forderte die künftige Bundesregierung auf, einen Erweiterungsbau zu finanzieren

 25.04.2025

Israel

Regierung kondoliert nach Tod des Papstes nun doch

Jerusalem löschte Berichten zufolge eine Beileidsbekundung nach dem Tod des Papstes. Nun gibt es eine neue

 25.04.2025

Berlin/Grünheide

Senatorin verteidigt ihre »Nazi«-Äußerung zu Tesla

Berlins Arbeitssenatorin spricht im Zusammenhang mit der Marke von »Nazi-Autos«. Daraufhin gibt es deutliche Kritik. Die SPD-Politikerin reagiert

 25.04.2025