Etliche deutsche Intellektuelle haben offenbar auf diese Debatte gewartet. Bis wohin sollen die Ukrainer sich wehren? Ja, tragen sie gar eine Verantwortung, dass die Sache nicht eskalieren möge? Manche behaupten, dies verlange der Ukraine ab, den rechten Zeitpunkt nicht zu verpassen, in dem die Waffen zu strecken seien – gemessen am Maßstab deutschen Dafürhaltens natürlich.
Warum die Deutschen das wissen? Angeblich wegen ihrer eigenen Kriegserfahrungen in den Familien, so der Soziologe Harald Welzer, Unterzeichner des offenen Briefes von Alice Schwarzer, am 8. Mai bei Anne Will. Das liegt neben der Sache. Aus zwei Gründen.
Einmal: Die deutschen Erfahrungen sind in der angerufenen Pauschalität Tätererfahrungen. Ein echter Existenzkampf in einer Notwehrsituation – das ist nicht ernsthaft Teil deutscher oder noch immer im Individuum virulenter Erfahrungen. Zweitens: Solche Äußerungen scheinen einer schiefgelaufenen Erinnerungskultur zu entspringen, die in »wir« und »die« unterteilt. So wie es Richard von Weizsäcker in seiner Rede zum 8. Mai 1985 noch getan hatte – eine Rede, die Welzer als richtige Perspektive präsentiert.
SELBSTERMÄCHTiGUNG Verdrängt wird da jede Diskussion um die Wehrhaftigkeit der Opfer – doch darum und um deren Motive muss es zuerst gehen. »Nie wieder« muss heißen: nie wieder Wehrlosigkeit. Das jedenfalls war die Lehre der Opfer, umgesetzt in der Selbstermächtigung von Juden einschließlich der Gründung eines wehrhaften Staates, der Selbstermächtigung auch von Homosexuellen, Sinti und Roma!
Das ist kein Feld, in dem nur kühler Utilitarismus herrschen darf. Opfer haben nie gefragt: Können wir das gewinnen, und wenn nicht, sollen wir alle Hoffnung fahren lassen und uns schlicht ergeben – mit derselben Konsequenz, zum Mordopfer zu werden, die uns auch bei Gegenwehr ereilen könnte? Nein, das lehren uns auch deutsche Erfahrungen, wenn auch nicht aus der täterhaften Mehrheitsgesellschaft.
»Nie wieder« muss heißen: nie wieder Wehrlosigkeit.
Das lehren uns die Erfahrungen jüdischer Deutscher, der Menschen im Widerstand, in der militärischen Gegenwehr, die bereit waren, den Protest mit KZ-Aufenthalt zu bezahlen. Nicht nur auf deutschem Boden. »Lasst uns nicht wie Schafe zur Schlachtbank gehen«, rief der Wilnaer Partisanenführer Abba Kovner am 1. Januar 1942, 19 Tage vor der Wannsee-Konferenz, den Seinen zu.
Auch in den alliierten Armeen kämpften Juden und Jüdinnen, in der französischen Résistance, in der internationalen Brigade im spanischen Bürgerkrieg, in den Partisanengruppen Mittel-Osteuropas, in Shanghai gegen Japan. Sich wohl bewusst, dass das eine »Eskalation« bedeutete – es kümmerte sie nicht. Konnten sie sicher sein, militärisch, technokratisch zu gewinnen? Überhaupt nicht. Warum taten sie es dennoch? Weil der Sinn des Menschen in solch einer Situation nicht darin besteht, nach militärischen Erfolgsgarantien zu schauen.
Da leitet Höheres, was uns schon die Zeilen der Artikel eins und zwei des Grundgesetzes lehren: Menschenwürde und Freiheit. Das ist im Krieg den Angegriffenen, den Opfern, ein Menschenrecht, sie müssen entscheiden, wie sie um Würde und Freiheit kämpfen wollen. Weil nur dies, und da kommen wir tatsächlich zu militärischen Nützlichkeitserwägungen, den eigentlich Machtlosen dann doch Macht verleiht. Dort ist die Erfahrung aus der deutschen Geschichte zu finden: dass der übermächtig scheinende Täter auch mithilfe derer, die scheinbar nur zum Sterben verdammt sind, besiegt werden kann.
Bedrückend vor dem Hintergrund deutscher Geschichte sind auch die Versuche einer Verengung des Blicks auf die Täter. Bundeskanzler Scholz sprach am 27. Februar schon von »Putins Krieg«, Putin im Gegensatz zum russischen Volk. Ein Muster, bekannt aus Jahrzehnten deutschen Wunschdenkens nach 1945. Natürlich ist nicht das gesamte russische Volk in Haftung. Aber das hört sich an, als hätte die wenigstens zuletzt wirkmächtige Täterforschung in Deutschland nie stattgefunden.
Konsequenz Wo einfach Frieden um jeden Preis ersehnt wird, gilt: Die Konsequenz der deutschen historischen Aggression war nicht einfach die Ächtung militärischer Gewalt, sondern die Ächtung des Angriffskrieges als Menschheitsverbrechen. Verkörpert ist das etwa im Nestor des Völkerstrafrechts, Ben Ferencz: Sohn jüdischer Einwanderer, geboren in New York, als Soldat unter den Ersten in Konzentrationslagern, Chefankläger im alliierten Einsatzgruppenprozess, maßgeblich beteiligt an der Schaffung des Internationalen Strafgerichtshofes.
Nach alledem: Sich als Opfer ermächtigen zu dürfen, dem Angriffskrieg auf ein ganzes Volk entgegenzutreten – das ist die Lehre aus der deutschen Geschichte.
Achim Doerfer ist Anwalt und Publizist. Zuletzt erschien »Irgendjemand musste die Täter ja bestrafen« (Kiepenheuer & Witsch, Köln 2021, 368 S., 24 €).