Seit Monaten verfolgen wir den Streit um die Praxisgebühr. Regierung und Opposition diskutieren die Abgabe für Arztbesuche. Soll sie bleiben, komplett gestrichen oder erst einmal ausgesetzt werden?
Meiner Meinung nach sollte die Praxisgebühr abgeschafft werden, weil sie das System in eine falsche Richtung drängt und nicht bewirkt hat, was sie bewirken sollte. Die Zahl unnötiger Arztbesuche hat sich nicht vermindert. Oft ist das Gegenteil der Fall. Die Überschüsse, die die Krankenkassen – Treuhänder der Beiträge ihrer Mitglieder – derzeit erwirtschaften, sollten denen, die sie bezahlt haben, zurückerstattet werden. Oder sie sollten für den Ausbau der Prävention verwendet werden.
Krankenkassen Vor allem aber geht die Diskussion um die Praxisgebühr an den wirklichen Problemen des Gesundheitssystems vorbei. Und eigentlich ist auch nicht die Verwendung des derzeitigen Milliarden-Überschusses das zentrale Thema. Es wäre genügend Geld im System. Entscheidend ist vielmehr die Frage, wie und wofür dieses Geld verwendet wird.
Den Krankenkassen ist der Vorwurf zu machen, dass sie mit den Beiträgen ihrer Mitglieder nicht immer verantwortlich umgehen, der Politik, dass sie nicht ihrer Pflicht nachkommt, einzugreifen und das System zu verändern. Gutes Beispiel: Die »Gesundheitsreform« 2004, die nichts anderes zustande brachte als die Einführung der Praxisgebühr, über deren Abschaffung jetzt wieder gestritten wird.
Das System ist krank. Es ist – auch durch Lobbyismus verschiedener Seiten – kaum reformfähig und viel zu träge. Betrachten wir allein die Zahl der unnötigen operativen Eingriffe, die ein riesiges Loch ins Gesundheitssystem reißen. Etwa 80 Prozent aller 200.000 in der Bundesrepublik durchgeführten Bandscheibenoperationen sind medizinisch völlig überflüssig. Dabei halten konservative Schmerzbehandlungen, minimalinvasive Therapien oder Osteopathie kostengünstigere und bessere Alternativen bereit. Doch die Versicherer sind rückständig, lehnen moderne Therapien, die beispielsweise in den USA bereits praktiziert werden, immer noch ab.
Entscheidungen für eine Operation werden hierzulande völlig verfrüht, unbedacht und meist aus fragwürdigem Eigeninteresse getroffen. Für die Diagnose am Patienten, die konservative Behandlung, die eigentliche ärztliche Kunst, hat der Mediziner zu wenig Zeit, den bildgebenden Verfahren hingegen wird viel zu große Bedeutung beigemessen.
Tradition Ziehen wir einmal den Vergleich mit unseren Nachbarn: Wenn wir allein die Zahl der Rückenoperationen, für die jährlich 25 Milliarden Euro gezahlt werden, auf ein europäisches Maß bringen würden – wir haben in Deutschland dreimal so viele Eingriffe wie zum Beispiel in Frankreich –, dann wäre schon viel erreicht. Als Mediziner und Jude schaue ich immer wieder auch auf unsere Tradition. Dabei entdecke ich uralte Gedanken und Prinzipien, die wir auf das heutige Gesundheitssystem durchaus anwenden können. Ein Beispiel ist das wichtige Gebot von der Erhaltung des Lebens, Pikuach Nefesch. Dafür sollten wir alles tun, es ist vorrangig vor fast allen anderen Geboten der Tora.
Oder nehmen wir den Hinweis darauf, dass jeder Einzelne laut jüdischem Gesetz verpflichtet ist, seinen Körper und damit die eigene Gesundheit sorgfältig zu hüten. Zudem ist das Prinzip dessen, was wir heute Solidargemeinschaft nennen, auch eine Erfindung der Tora. Es ist im jüdische Sinne eine über Tausende von Jahren hinweg praktizierte Selbstverständlichkeit, dass die Gemeinschaft für den Einzelnen in Not – hier sozial Schwache sowie akut und vor allem chronisch Kranke – sorgen muss.
Vergessen wir nicht den holistischen Ansatz des Judentums: Geist und Körper gehören zusammen. Unser westliches System ist analytisch geprägt. Es geht immer mehr – und häufig zu sehr – in die Tiefe, in kleine und kleinste Fachrichtungen. In anderen Bereichen sind wir schon auf einem recht guten Weg. Nur ein Beispiel: Die Verantwortung des Einzelnen für die eigene Gesundheit wird von immer mehr Menschen sehr ernst genommen. Viele achten auf gesunde Ernährung, mehr Bewegung und eine bessere Lebensweise. Aber wir müssen diesen Gedanken noch mehr betonen, vor allem in der jüngeren Generation.
Operation Denn – ich komme wieder auf Rückenleiden zurück – die Zahl derer, die von dieser Volkskrankheit betroffen sind, wird immer größer. Aufgrund der veränderten Lebenswelt, die zu Bewegungsmangel und Fettleibigkeit führt, wird die Anzahl der Betroffenen, wenn nicht aktiv gegengesteuert wird, rasant weitersteigen. Die Kinder und Jugendlichen von heute sind die Rückenpatienten von morgen, letztendlich werden sie auch im OP oder in der Therapie landen und hohe Kosten verursachen.
Wenn das Bewusstsein für dieses Problem stärker gefördert würde, bei Kassen, Politik und der gesamten Öffentlichkeit, könnte man es bei der Wurzel packen. So ließen sich allein in diesem Bereich jährlich mehrere Milliarden Euro Behandlungskosten einsparen. Und die Diskussion um zehn Euro Praxisgebühr wäre gleich mit vom Tisch. Bessere Vorsorge und Aufklärung, mehr Eigenverantwortung, Transparenz und Mitbestimmung – das müssen wir erreichen. Denn das System ist krank, wir müssen es heilen.
Der Autor ist Arzt in München, Spezialist für Orthopädie und Rückenleiden. Zudem ist er Verfasser mehrerer Bücher, zuletzt erschien von ihm »Die Marianowicz-Methode. Mein Programm für einen schmerzfreien Rücken« (2012).