Alle paar Jahre kommt eine Debatte auf, ob der 9. November ein Feiertag sein sollte. Dazu ist gerade ein Buch des Journalisten Wolfgang Niess erschienen, das dafür plädiert, den 9. November zum Nationalen Gedenktag zu erklären – so wie schon der 27. Januar als Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus und der 17. Juni als Nationaler Gedenktag proklamiert worden seien.
Es wäre, so Niess, ein starkes Signal der Bundesrepublik Deutschland an die Zivilgesellschaft, dass »der 9. November ein besonderer Tag in der deutschen Geschichte ist – und das jährliche Gedenken an diesen Tag von herausragender Bedeutung für die weitere Entwicklung der Demokratie in Deutschland«.
demokratie Der 9. November mache den »langen, von furchtbaren Rückfällen in die Barbarei unterbrochenen, schließlich aber erfolgreichen Kampf um die Demokratie in Deutschland anschaulich wie kein anderer Tag des Jahres. Es ist an der Zeit, ihn zu einem nationalen Gedenktag zu erklären«.
Alle paar Jahre kommt eine Debatte auf, ob der 9. November ein Feiertag sein sollte.
Das Buch dokumentiert in einzelnen Kapiteln den 9. November im 20. Jahrhundert. »›Wahnsinn!‹ – Der Mauersturz 1989« ist die Ode an den Abend des 9. November 1989 und seine Protagonisten überschrieben, die die Entwicklungen hin zur Maueröffnung kleinteilig dokumentiert.
Schließlich collagiert der Autor unter der Überschrift »Angst und Sorge dominieren – Der 9. November wird (wieder) nicht Nationalfeiertag« und einem weiteren Kapitel unter der Überschrift »Der Blick wird freier – der 9. November in der Geschichtskultur des vereinten Deutschlands« Stimmen, die nicht immer ohne tendenziöse Vereinnahmung für das Anliegen des Autors sind. Nicht nachvollziehbar ist seine Überlegung, AfD-Anträge, den 9. November zum »Gedenk- und Feiertag« zu machen, dadurch zu entkräften, dass diese Forderung nun von demokratischen Kräften gestellt wird.
revolution Gleichgültig ob man im 19. Jahrhundert mit der gescheiterten Revolution 1848 ansetzt oder mit dem 9. November 1918: Die Ereignisse im November lassen sich nicht auf einen Begriff herunterbrechen.
Der 9. November 1918 steht für den Neuanfang – für Revolution, für einen allen Menschen das gleiche Wahlrecht und die gleichen Grundrechte garantierenden demokratisch verfassten Staat. Historisch war es ein Freudentag, der kein Gedenken im Sinne von Trauer oder kritischem Rückblick erheischt.
Die Ereignisse des 9. November lassen sich nicht auf einen Begriff herunterbrechen.
Der 9. November 1923 steht für ein ehrendes Andenken überhaupt nicht zurVerfügung. Es war der Versuch eines rechtsradikalen nationalsozialistischen Umsturzes der deutschen Republik. Die damals von den die Republik verteidigenden Polizeikräften zu Tode Gebrachten waren Marodeure und Verbrecher, derer es nicht zu gedenken gilt.
Der 9. November 1938 und die ihm vorausgehenden und nachfolgenden Tage waren Tiefpunkte deutscher Geschichte. Etwa 100 Menschen wurden ermordet, ungefähr 30.000 vorwiegend jüdische Männer gewaltsam in Konzentrationslager verbracht, annähernd 1000 jüdische Gotteshäuser und unzählige Geschäfte jüdischer Inhaber zerstört. Gäbe es den 9. November 1918 und den 9. November 1989 nicht, könnte man tatsächlich über den 9. November als »Gedenktag« nachdenken.
widerstand Der Attentatsversuch Georg Elsers auf Hitler am 8. November 1939 ist bei allem Gedenken an den deutschen Widerstand immer mitzudenken. Aber für den Kern eines nationalen »Gedenktages« reicht das wohl nicht.
Der 9. November 1989 – sprich: die Maueröffnung und die damit einhergehende Beendigung der Teilung Restdeutschlands – hätte genauso eine Woche früher oder später stattfinden können. Das wäre dann auch kein Gedenktag, aber hätte ganz sicher das Zeug zu einem nationalen Feiertag der freudigen Sorte.
Der 9. November 1938 und die ihm vorausgehenden und nachfolgenden Tage waren Tiefpunkte deutscher Geschichte.
Des einen Freud, des anderen Leid – das kann nicht der Stoff sein, aus dem ein nationaler Feiertag kreiert wird, der ja beides beinhalten müsste: große Freude über die Revolution mit anschließender demokratischer Verfassung, große Freude über das Aufheben der Teilung Deutschlands, der Reiseverbote und demokratischen Beschränkungen. Das ist ganz sicher nicht der Stoff für einen nationalen Gedenktag.
antisemitismus Zumal die Einheit zwar staatlich vollendet ist, der Kampf gegen Antisemitismus und Rassismus aber – siehe Halle, siehe Hanau – nicht einmal ansatzweise befriedigend auf die Reihe gebracht ist.
Dieses Land hat es immerhin über 30 Jahre vermocht, den so diametral entgegengesetzten historischen Gegebenheiten dieses Tages mit an die verschiedenen Jahrestage angepassten Schwerpunktsetzungen, mit von Bürgerinitiativen unterschiedlichster Provenienz initiierten Veranstaltungen, mit Staatsakten im Bundestag oder in Gedenkstätten Ausdruck zu geben.
Wie am 20. Juli in Erinnerung an die Opfer des Deutschen Widerstands überlassen wir es der Tatkraft der Nachfahren der Opfer, den Bürgerinitiativen, den staatlich unterstützten Erinnerungsorten und Gedenkstätten sowie insbesondere der politischen Verantwortung der jeweiligen Bundes- oder Landeregierung, was und wo und wie gedacht oder – im Kontext von 1918 oder 1989 – gefeiert wird. Nicht staatlich verordnet, sondern individuell verantwortet.
Der Autor ist Historiker, Publizist und Vorsitzender der Allgemeinen Rabbinerkonferenz (ARK).