Frau Käßmann, unter dem Titel »Reformator, Ketzer, Judenfeind – Jüdische Perspektiven auf Martin Luther« hält die Bildungsabteilung im Zentralrat der Juden in dieser Woche eine Tagung in Berlin ab. Natürlich wird es auch um Luthers antijüdische Schriften gehen – wie diskutieren Sie das Thema innerhalb der Kirche?
Ich kann mir kein Reformationsjubiläum 2017 vorstellen ohne eine Auseinandersetzung mit diesen Schriften. Ich finde sie jedes Mal aufs Neue erschreckend.
In seiner Schrift »Von den Juden und ihren Lügen« von 1543 schlägt Luther vor, Synagogen niederzubrennen und Häuser von Juden zu zerstören. Wie erklären Sie sich diesen Hass?
Wirklich erklären kann man es nicht, weil es so entsetzlich ist. Luther hatte 1523 eine sehr freundliche Schrift geschrieben unter dem Titel »Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei«. Darin hat er sich massiv von Vorurteilen gegen Juden abgegrenzt. Historiker erklären sich die spätere Entwicklung mit der Enttäuschung des alten Luther, der gedacht hatte, die jüdische Bevölkerung werde nach der Lektüre seiner Schriften zum Christentum übertreten. Luther hat gegen alles und jeden gewettert, aber diese Worte sind absolut unvertretbar. Die »Judenschrift« von 1543 ist von den Nationalsozialisten massiv nachgedruckt worden, und sie haben sich auf ihn berufen. Das ist für unsere Kirche ein ganz schweres Erbe.
Anfangs hat sich Luther von Gewalt gegen Juden distanziert – und später dazu aufgerufen. Alles nur aus Frust?
Es kommt noch etwas dazu: Luther kannte sich im Judentum überhaupt nicht aus. Er hat nur wenige Juden getroffen und nur ein einziges Mal mit Juden diskutiert. Und dass man die Hebräische Bibel, das Alte Testament, auch anders lesen kann, und nicht als Hinweis auf den Messias Jesus, das hat er nicht verstanden.
Wie gehen Sie als Reformationsbotschafterin mit Luthers Antisemitismus um?
Ich thematisiere das eigentlich in jedem Vortrag. Menschen können irren, und Konzilien können irren, das hat Luther selbst gesagt. Er wollte, dass alle Menschen in Glaubens- und Gewissensfragen frei sind, aber er hat selbst nicht die Konsequenz daraus gezogen. Man kann also mit Luther gegen Luther argumentieren. Martin Luther hat vieles für die Kirche geleistet, aber er ist kein makelloser Held. Was die Juden betrifft, hat er die Kirche auf einen entsetzlichen Irrweg gebracht. Die Evangelische Kirche Hessen-Nassau hat sich im vergangenen November von Luthers judenfeindlichen Schriften distanziert. Und ihr Kirchenpräsident Volker Jung hat die EKD-Synode aufgefordert, sich damit zu befassen. Das wird auch noch erfolgen.
Wann?
Die nächste EKD-Synode ist sicherlich ganz von Wahlen bestimmt. Spätestens kommendes Jahr, schätze ich, wird es der Fall sein.
Mit der Botschafterin des Rates der Evangelischen Kirche Deutschlands für das Reformationsjubiläum sprach Ayala Goldmann.