Zentralratspräsident Josef Schuster hat am Freitag in seiner Rede in der Berliner Synagoge Rykestraße begründet, warum die AfD-Fraktion als einzige des Bundestags nicht zur zentralen Gedenkveranstaltung 80 Jahre nach der Pogromnacht am 9. November 1938 eingeladen war. »Es wäre für die jüdische Gemeinschaft unerträglich gewesen, heute, 80 Jahre nach der Pogromnacht, Vertreter dieser Partei unter uns zu wissen«, sagte Schuster.
Hinter Menschen, die Flüchtlinge, Muslime oder Juden angreifen, stünden die »geistigen Brandstifter«, so der Zentralratspräsident bei der Gedenkveranstaltung: »Eine Partei, die im Bundestag am ganz äußeren rechten Rand sitzt, hat diese Hetze perfektioniert.«
INSTRUMENTALISIERUNG Schuster beklagte: »Vor nichts haben sie Respekt. Sie instrumentalisieren die mutigen Widerstandskämpfer der Weißen Rose für ihre Zwecke. Sie verhöhnen die Opfer und Überlebenden der Schoa, indem sie die NS-Verbrechen relativieren. Sie betreiben Geschichtsklitterung und wollen unsere Gedenkkultur zerstören. Daher haben wir diese Fraktion als einzige des Deutschen Bundestags nicht eingeladen.«
Bei der Gedenkveranstaltung 80 Jahre nach den Ausschreitungen von Nazi-Deutschland gegen Juden in Deutschland und Österreich im November 1938 sprach auch Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, seine Amtsvorgänger Joachim Gauck, Christian Wulff und Horst Köhler sowie Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble, Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller und der israelische Botschafter Jeremy Issacharoff gehörten ebenfalls zu den zahlreichen Ehrengästen.
Josef Schuster begann seine Rede mit Bezug auf einen antisemitischen Angriff aus der jüngsten Zeit: »Es war mitten in der Nacht, als der Gullydeckel durch das Fenster der Synagoge flog. Glas zersplitterte. (…) Der Gullydeckel, der auf die Synagoge in Gelsenkirchen geworfen wurde – das war nicht im Jahre 1938. Das war im Jahr 2014.«
LEHREN Der Zentralratspräsident betonte: »Eine Gleichsetzung verbietet sich. Doch wenn wir heute an die staatlich organisierten Ausschreitungen gegen Juden im November 1938, also vor 80 Jahren, erinnern, dann tun wir dies nicht nur in dem Wissen um das größte Menschheitsverbrechen in der Geschichte und mit Blick auf die Lehren, die wir daraus gezogen haben. Sondern wir tun es auch in dem Wissen, dass immer noch Unrecht geschieht.«
Die gezielte, staatlich gelenkte Gewalt gegen Juden, jüdische Geschäfte und Synagogen im November 1938 »können wir als eine Station betrachten auf dem Weg, die radikale nationalsozialistische Ideologie in die Realität umzusetzen, ja auf grausame Weise zu vollenden«, sagte Schuster weiter.
»Es wäre für die jüdische Gemeinschaft unerträglich gewesen, Vertreter dieser Partei unter uns zu wissen«, sagte Schuster.
Selbst wenn in diesen Novembertagen im Wesentlichen nur SA und SS beteiligt waren, »handelte es sich doch um Tausende Deutsche, die tatkräftig mitmachten«, so Schuster. Es habe nur sehr wenige Menschen gegeben, die Anstand und Mut bewiesen: »Zu ihnen gehört Wilhelm Krützfeld. Der Berliner Polizeibeamte stellte sich mit weiteren Beamten seines Reviers in der Nacht zum 10. November der SA vor der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße in den Weg.«
Viele würden sich fragen, ob sie den gleichen Mut besessen hätten: »Wir können uns diese Frage durchaus auch heute stellen. Denn wir haben es wieder mit Brandstiftern zu tun. Mit geistigen Brandstiftern, aber auch mit wirklichen.«
Schuster beklagte: »Dass in unserem Land allein 2017 rund 300 Flüchtlinge bei Angriffen verletzt wurden, dass Unterkünfte von Asylbewerbern regelmäßig Ziele von Anschlägen sind – das ist ein Skandal!« Ebenso sei es ein Skandal, »dass immer häufiger Moscheen mit Hassparolen versehen oder noch massiver angegriffen werden. Und es ist ein Skandal, dass etwa jede zweite Woche in Deutschland das Gleiche mit Synagogen passiert, sogar obwohl sie in der Regel unter Polizeischutz stehen«.
CHEMNITZ Der Zentralratspräsident erinnerte an weitere Vorfälle: »Sie werden sich alle erinnern an den jüdischen Restaurant-Besitzer in Chemnitz, der kürzlich und zum wiederholten Male von Neonazis angegriffen wurde. Wenig später, im Oktober, haben Neonazis ein persisches Restaurant in Chemnitz aufgesucht und den iranischen Betreiber schwer verletzt. Dass solche Dinge in Deutschland 2018 geschehen, das ist eine Schande für unser Land!«
Die geistigen Brandstifter dürften nicht noch mehr an Boden gewinnen: »Im Gegenteil. Sie müssen so weit zurückgedrängt werden, bis sie ganz in der Versenkung verschwinden«, forderte Schuster. Jeder trage Verantwortung dafür, dass Respekt und Toleranz das Profilbild Deutschlands prägen.
»Zivilcourage fängt im Alltag an. Jede und jeder unter uns mag sich fragen: Schreite ich ein, wenn in meiner Kneipenrunde Schwulenwitze erzählt werden? Oder abfällig über Frauen gesprochen wird? Oder wenn vom angeblichen Einfluss der Juden von der amerikanischen Ostküste die Rede ist? Oder ist mir das Risiko zu hoch, als Spaßbremse oder Spielverderber zu gelten? (…) Höre ich lieber weg, wenn ein dunkelhäutiger Mann in der Bahn beleidigt wird?«, fragte Schuster.
Der Zentralratspräsident mahnte: »Wenn wir im Kleinen nicht einstehen für die Werte unseres Grundgesetzes, für die Menschenwürde, dann dürfen wir nicht erwarten, dass es im Großen funktioniert.« Die Demokratie sei kein Selbstläufer: »Sowohl die nachwachsenden Generationen als auch die Menschen aus anderen Kulturen und politischen Systemen müssen wir zu überzeugten Demokraten machen.«
»UNTEILBAR« Schuster wies aber auch auf ein zunehmendes Engagement von Menschen gegen Rechtsextremismus hin: »Wenn ich auf die Demonstrationen der vergangenen Monate schaue, ob unter dem Hashtag ›Wir sind mehr‹, ›Welcome United‹, ›Unteilbar‹ oder ›Herz statt Hetze‹, dann spüre ich: Da bewegt sich etwas. Die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland stehen auf. Es ist eine Aufbruchsstimmung zu spüren. (...) Es ist der Aufbruch in ein Deutschland, das Respekt zu seinem Markenkern macht.«
Zum Schluss seiner Rede sagte Schuster, aus dem Jahr 1938 seien aus Wien folgende Sätze eines zwölfjährigen jüdischen Jungen überliefert: »Mutti, wenn wir wirklich so schlecht sind und kein anderes Land uns aufnehmen will, ist es doch besser, gleich Schluss zu machen und den Gashahn aufzudrehen.« Nie wieder dürfe es so weit kommen, »dass ein Mensch, und erst recht ein Kind, nur wegen seiner Herkunft Anlass zu so viel Verzweiflung hat«, unterstrich der Zentralratspräsident. ja