Politische Bewegungen, die eine Mehrheit der Gesellschaft hinter sich wissen, benötigen kaum Pomp und Propaganda. So lag etwa die US-Bürgerrechtsbewegung von Martin Luther King zur Emanzipation der Schwarzen perfekt im Zeitgeist: Zum Marsch auf Washington am 28. August 1963 erschien eine Viertelmillion Menschen.
Im Kontrast dazu gibt es Organisationen, die ihre gesellschaftliche Relevanz lediglich behaupten und mehr Schein als Sein sind. Die »Jüdische Stimme für einen gerechten Frieden in Nahost« (JS) ist ein Beispiel dafür.
Die »Jüdische Stimme« wird von der »Pro-Palästina«-Bewegung immer wieder als Kronzeugin gegen Israel bemüht. Der Verein war Mit-Organisator des von der Polizei vorzeitig beendeten »Palästina-Kongresses«, der im April in Berlin stattfand. Die Vorstände Wieland Hoban, Udi Raz und Iris Hefets sind auch auf anderen Events der Szene regelmäßig dabei.
Sie werfen Israel »Apartheid« und »Genozid« vor. Nach den Massakern der Hamas und anderer Gruppen und Zivilisten schrieb die JS: »Was nun geschehen ist, glich einem Gefängnisausbruch, nachdem die Insassen zur lebenslangen Haft verurteilt wurden, nur weil sie Palästinenser:innen sind.« Man sei »wütend auf die Unterstützer des 75-jährigen israelischen Kolonialregimes und die Blockade des Gazastreifens, die zu diesen Ereignissen geführt hat«.
Gibt es Kritik am antisemitischen Grundrauschen der Anti-Israel-Proteste, verteidigen sich Aktivisten gerne mit der Unterstützung durch die JS. Das Argument: Wie könne man antisemitisch sein, wenn doch selbst Juden in erster Reihe mit marschieren?
Viele meinen, die JS sehr ernst nehmen zu müssen – und das trotz berechtigter Zweifel, dass die Organisation für eine relevante Anzahl an Juden in Deutschland sprechen kann.
Der Name »Jüdische Stimme für einen gerechten Frieden in Nahost« klingt bombastisch und suggeriert, dass die Organisation einen relevanten Teil der jüdischen Gemeinschaft vertritt. Gerne wüsste man, wie groß dieser Teil tatsächlich ist.
Die Replik auf eine entsprechende Anfrage der Jüdischen Allgemeinen wurde jedoch unter den Vorbehalt gestellt, die Antworten dürften ausschließlich ungekürzt wiedergegeben werden. Für seriöse Medien sind solche Vorgaben allerdings kaum akzeptabel: Es ist ihre Aufgabe, offizielle Statements einzuordnen und das Relevante vom Belanglosen zu trennen. Da die Organisation den Schriftverkehr mit dieser Zeitung allerdings kurze Zeit später in den sozialen Medien veröffentlicht hat, kann stattdessen daraus zitiert werden.
Um es vorwegzunehmen: Die »Jüdische Stimme« gibt ihre Mitgliederzahlen nicht preis. Diese steigen allerdings »jedes Mal stark an, wenn Israel den Gazastreifen bzw. den Libanon« angreife, heißt es in der Antwort. Seit dem 7. Oktober sei die Zahl noch weiter »dramatisch« gestiegen. Dass der Verein derart mauert, scheint selbst bei einigen Anhängern für Irritation zu sorgen.
»Was ich – bei allem Respekt für eure Arbeit – nicht verstehe: warum ist die Zahl der Mitglieder nicht etwas, was man öffentlich machen kann? Was für eine Gefahr droht da?«, fragt etwa ein Nutzer auf Instagram. Und beantwortet sich die Frage kurze Zeit später selbst: »Ich denke, die Leute von der JA wollen wohl wissen, ob ihr selbsterklärter ›Gegner‹ strukturell ernst zu nehmen ist.«
Zwar ist die JS nicht der »Gegner« der Jüdischen Allgemeinen, aber der Nutzer bringt etwas anderes durchaus auf den Punkt: Wie ernst man eine Organisation nehmen muss, hat auch etwas mit der Anzahl ihrer Mitglieder zu tun.
Für Israelhasser ist die »Jüdische Stimme« eine willkommene Legitimierung.
Viele meinen offenkundig, die JS sehr ernst nehmen zu müssen – und das trotz berechtigter Zweifel, dass die Organisation für eine relevante Anzahl an Juden in Deutschland sprechen kann. 2019 erhielt die JS gar den Göttinger Friedenspreis, was zu einer Distanzierung der dortigen Universität, der Stadt und der Sparkasse von der Preisverleihung führte.
Im »Deutschlandfunk« übte damals Achim Doerfer von der Jüdischen Gemeinde Göttingen scharfe Kritik: »Das sind Leute, die aus Marketinggründen als Juden vorgehen. Es sind Juden, die mit der absoluten Mehrheit der Juden in Deutschland überhaupt nicht vernetzt sind.«
Wofür die Organisation, die das Wort »Frieden« im Namen trägt, tatsächlich steht, erfährt man durch die zahlreichen Wortmeldungen ihrer Vertreter. Anfang Mai dieses Jahres schrieb JS-Vorstandsmitglied Wieland Hoban in der linksextremen Zeitung »junge Welt«: »Der politische Zionismus beruht auf der Logik des Antisemitismus, nicht der Emanzipation; er ist eine Ideologie der Unterdrückung, die abgeschafft werden muss.«
Für Israel-Gegner aller Couleur sind solche Aussagen eine willkommene Legitimierung der eigenen Position durch vermeintliche Gewährsleute.
Vorstandsmitglied Udi Raz taucht regelmäßig auf israelfeindlichen Events auf, ausgestattet mit einer auffälligen »Melonen-Kippa« – dem Symbol der Anti-Israel-Bewegung.
Bei ihren oft provokanten Aktionen landet Raz immer wieder in Polizei-Gewahrsam, womit die »skandalöse« Headline perfekt ist: »Jüdische Aktivistin festgenommen, weil sie propalästinensisch ist«, titelte das Online-Portal »Middle East Eye« Anfang April. 2023 wurde Raz vom Jüdischen Museum Berlin entlassen, nachdem sie bei einer Führung als Tourguide Israel »Apartheid« vorwarf. Eine Pressanfrage der Jüdischen Allgemeinen an Udi Raz blieb unbeantwortet.
Die radikale Anti-Israel-Aktivistin wird als jüdische »Kronzeugin« in Stellung gebracht – genau das scheint die wichtigste Funktion der »Jüdischen Stimme« zu sein.
Die aus Haifa stammende Aktivistin wird vor allem von linken und linksradikalen Medien gerne als Ansprechpartnerin genutzt, aber auch von dem von Katar gesteuerten TV-Sender Al Jazeera. Dort durfte Raz unlängst ein Videostatement abgeben, in dem sie die »deutschen politischen Eliten« eines anti-arabischen und antimuslimischen Rassismus bezichtigt. Der Zionismus werde instrumentalisiert, um Muslime und Araber als Antisemiten zu brandmarken.
Von der Moderatorin wird Raz als »jüdische Friedensaktivistin« eingeführt und damit mit moralischen Vorschusslorbeeren ausgestattet. Entsprechend bleiben die ohne Belege auskommenden Ausführungen Razʼ ohne kritische Nachfrage. Wieder einmal wurde eine radikale Aktivistin gegen Israel als jüdische »Kronzeugin« in Stellung gebracht – und genau das scheint die wichtigste Funktion der »Jüdischen Stimme« zu sein.