Es sind Momente, in denen sich Irritation, Zuneigung, Wut und Stolz mischen. Beschreibungen, die ansonsten auf zwischenmenschliche Beziehungen zutreffen, drängen sich mir auf, wenn ich mein Verhältnis zum Staate Israel artikuliere. Dieser Staat ist meine erste Heimat. Ich fühle mich ihm verbunden: emotional, politisch, kulturell. Ganz zu schweigen von der familiären Bindung.
Ich bin von der Notwendigkeit der Existenz des Staates, in dem ich aufgewachsen bin, in dessen Armee ich drei Jahre gedient und in dem ich studiert habe, überzeugt. Mein Leben und mein Bewusstsein als Jude in Deutschland ist nur im Zusammenhang mit der Geschichte des Zionismus, des Überlebens meiner Eltern in der Schoa und meiner engen Beziehung zur komplexen israelischen Wirklichkeit zu verstehen. Ich stehe im engen Kontakt mit israelischen Wissenschaftlern und vermisse oft die israelische Lebensfreude und Chuzpe.
Angriff Die derzeitige politische Situation in Israel, die Umsetzung einer sogenannten juristischen Reform, die sich als Versuch eines massiven Angriffs auf die rechtsstaatlichen Institutionen des Staates herausstellt, treibt mich um. Der jüdische und demokratische Staat Israel war bisher ein faszinierendes Projekt, in dessen Rahmen sich Menschen unterschiedlicher Traditionen, Religionen oder religiöser Strömungen, kultureller Hintergründe und sprachlicher Vielfalt miteinander arrangierten.
Zweifelsohne gibt es in Israel Streit um nahezu alle Aspekte der politischen Anschauung, ob es um den Verlauf der Staatsgrenzen oder die Schließung von Geschäften am Schabbat geht. Alles schien bisher verhandelbar und machte den Reiz dieser Gesellschaft aus. Dabei wurde immer auf die geltenden rechtsstaatlichen Prinzipien verwiesen und auch vertraut. Obwohl es in Israel keine Verfassung im klassischen Sinne gibt, schien die Gewaltenteilung als tragendes Organisations- und Funktionsprinzip des Rechtsstaats unaufhebbar.
Die Unabhängigkeitserklärung betont eine tief sitzende jüdische Erfahrung.
So gibt es ein über die Grenzen des Staates hinaus hoch anerkanntes Oberstes Gericht, das über die Einhaltung der Spielregeln seitens der Parteien und der Bürger wacht, sie – wenn nötig – schützt oder deren Entscheidungen aufhebt. Kurzum: eine rechtsstaatliche Praxis, wie sie in demokratischen Gesellschaften üblich und notwendig ist.
koalition Seit November 2022 bestimmt eine Koalition aus rechtspopulistischen, rechtsextremen, nationalistischen und religiösen Parteien die politische Agenda in Israel. In ihr sind Anhänger und Agitatoren rassistischer und nationalistischer Ideologien vertreten, die um jeden Preis ihren fundamentalistischen Überzeugungen zum Durchbruch verhelfen wollen. Sie eint ein tiefes Ressentiment gegen das demokratische Gefüge des Staates, das sie aus unterschiedlichen Motiven verändern wollen.
In Ungarn und Polen lässt sich erkennen, was ein Abrücken von demokratischen Grundsätzen für die Presse- und Wissenschaftsfreiheit oder die Menschenrechte bedeutet.
Der israelische Fall liegt anders. Die Koalition hat etwas bewirkt, das scheinbar im beschwerlichen israelischen Alltag unterging: die Rückkehr der Erinnerung, weshalb der jüdische Staat gegründet wurde. Hunderttausende Israelis wehren sich gegen eine politische Provokation, die seitens der herrschenden radikalen Parteien als Programm der systematischen Veränderung des Charakters des Staates angekündigt wird. Es geht also um nicht mehr oder weniger als um die Grundlagen des Staates und eines bestehenden Gesellschaftsvertrages, der Vielfalt und Pluralität seit nunmehr 75 Jahren garantiert.
loyalität Mit der drohenden Aufhebung der Autorität des Obersten Gerichts wird auch für viele Israelis und Juden weltweit der Grund der bedingungslosen Loyalität infrage gestellt. Und das ist tatsächlich eine politische Überlebensfrage. Die Identifikation und die Solidarität mit dem israelischen Staat hat nicht zuletzt mit dem Versprechen zu tun, das die jüdische Nationalbewegung – der Zionismus – ihren Anhängern gegeben hat und weiterhin gibt.
Die Unabhängigkeitserklärung des Staates betont eine tief sitzende jüdische Erfahrung, dass Juden und Jüdinnen nur eine Lebens- und Überlebenschance in einem Staat haben, dessen Institutionen über ein demokratisches Selbstverständnis verfügen und eine dementsprechende politische Kultur hervorbringen und diese verteidigen. Die Erfahrung der Unterdrückung, der Verfolgung und der Vernichtung trägt die Handschrift dieses Dokuments.
Eine Gesellschaft erweist sich dann als stabil, wenn sie mit Widersprüchen und Krisen umgehen kann. Der israelische Staat führt seit seiner Gründung einen Kampf um die Sicherung seiner Existenz in Anbetracht der kontinuierlichen Bedrohungen und Ankündigung seiner Zerstörung durch feindselige Staaten oder Terrororganisationen. Innenpolitische Konflikte sind ebenso an der Tagesordnung.
konsens Bei alldem herrschte bisher aber ein Konsens über Aufgaben und Grenzen der parlamentarischen Demokratie. Hunderttausende Israelis fühlen sich erstmalig bedroht und gehen auf die Straße, geben ihrer Angst, Empörung und Bereitschaft zum zivilen Ungehorsam Ausdruck.
Eine Gesellschaft erweist sich dann als stabil, wenn sie mit Widersprüchen umgehen kann.
Die Regierung Netanjahu hat der liberalen israelischen Öffentlichkeit dazu verholfen, sich ins Gedächtnis zu rufen, warum sie das oft harte, anstrengende und bedrohliche Leben auf sich nimmt. Sehr viele Israelis wissen, sie könnten genau das verlieren, was ihnen die Motivation gibt: als Soldaten und Soldatinnen, als Eltern, als engagierte Bürgerinnen und Bürger. Und vor allem wissen sie, dass es keinen anderen jüdischen Staat für sie gibt.
Ich bin der Meinung, dass heute derjenige Zionist ist, der den Demonstranten die uneingeschränkte Unterstützung zukommen lässt und somit unter Beweis stellt, dass er um die Nöte und Sorgen eines beträchtlichen Teils der israelischen Bevölkerung weiß. Und noch etwas haben die Israelis begriffen: Eine parlamentarische Mehrheit, die zwar demokratisch an die Macht gekommen ist, verliert ihre Legitimation dann, wenn sie sich anmaßt, die demokratischen und rechtsstaatlichen Strukturen der Gesellschaft abzuschaffen.
Der Autor ist Direktor der Bildungsabteilung im Zentralrat der Juden in Deutschland.