Hegel sah in Napoleon, der durch Berlin ritt, den »Weltgeist zu Pferde«. Es war und ist die philosophische Idee, dass jede Epoche die Verkörperung ihres Zeitgeistes in einem Akteur kondensiert sieht. Es ist eine thesenstarke Vereinfachung, die die Dinge auf den Punkt bringt. Deswegen auch hier: Die israelische Armee (IDF) ist die Avantgarde des freien, liberalen, wehrhaften Westens.
Ihre Geschichte gleicht in ihren Triumphen und Siegen einem Wunder. Die kleine, hochgerüstete Armee eines aus dem Nichts geschaffenen Staates im Schock der Schoa – dem »Nie wieder« eine Wehrhaftigkeit geben, die diese beiden Wörter eben nicht nur Wörter sein lässt, sondern ein Gesetz, ein Gebot, eine Gewissheit.
Das »Nie wieder« gilt nur, weil es die IDF gibt – und am Ende ist Israel als Staat nur zu denken mit einer Armee wie dieser. Früher gehörten auch Mossad, Schin Bet und Aman dazu, aber seit dem 7. Oktober wankt der Ruf der Geheimdienste als Instanz, die das »Nie wieder« garantieren kann.
Die IDF prägt die Gesellschaft
Dass es bei der Barbarei der Hamas-Terroristen nicht noch schlimmer gekommen ist, hat mit der Sozialisationsinstanz IDF zu tun. Jeder Israeli, gleich welchen Geschlechts, muss einen mehrjährigen Militärdienst leisten, sinnvollerweise nun auch die orthodoxen Juden. Und so waren es kampferprobte Reservist:innen (nirgendwo ist das Gendern passender als bei der IDF) und Pensionisten, die ihren Landsleuten in den Kibbuzim und Dörfern an der Grenze zum Gazastreifen wehrhaft zu Hilfe kamen.
Israel gibt es nur, weil es die IDF gibt. Eine liberale, demokratische Gesellschaft gibt es an diesem Ort nur, weil die IDF einen Christopher Street Day ermöglicht, weil sie das Nachtleben in Tel Aviv, wo Protestanten, Atheisten, Juden, Muslime, palästinensische Israelis zusammen feiern können, sichert. All das wird im Augenblick – groteskerweise nach dem Massaker der Hamas-Terroristen – verdreht und verdrängt.
Die Meta-Ebene dieses abscheulichen Angriffs ist dessen medial-kulturelle und politische Instrumentalisierung. Und da muss man leider sagen, dass die Hamas und ihre Spindoktoren in Katar und im Iran den Westen besser als viele idealistische Träumer hierzulande gelesen haben: Der Westen ist sich seiner Sache ungewiss. Die Stussprediger und Illusionisten einer friedlichen Lösung mit den Palästinensern nutzen das Blutbad, um die alte Leier von »Beide Seiten müssen abrüsten« zu aktualisieren.
Israel verteidigt rote Linien, die der Westen nicht einhalten konnte
Militärisch hat die IDF den Kampf gegen die Hamas im Gazastreifen fast gewonnen. Unter unfassbaren Verlusten – mit persönlichen Tragödien. Einmal mehr muss Israel einen hohen Preis dafür zahlen, dass die Außenpolitik des Westens nicht in der Lage ist, seine Feinde einzuhegen.
Der Angriff der Putin-Armee auf die Ukraine ist ebenso ein Zeichen der Schwäche des Westens wie der Angriff der Hamas auf Israel und die parallel dazu hochgefahrenen Angriffe des Iran-Proxys Hisbollah. Manche Experten sehen das Ausbleiben von Reaktionen des Westens, der damaligen Obama-USA und der europäischen NATO-Partner auf den Giftgas-Einsatz in Syrien als jenen Test an, den der Westen nicht bestanden hat. Denn dieser Akt beispielloser Aggression gegen sein eigenes Volk, unterstützt von Russland, blieb für Assad ohne Konsequenz.
Israel muss einen hohen Preis für die Außenpolitik
des Westens zahlen.
Die Israelis reden nicht über rote Linien, sie ziehen sie, indem sie bei Überschreiten derselben klar und unmissverständlich reagieren. Die Kritik an der israelischen Kriegsführung ist in der Regel vor allem eine jener Kräfte, die den israelischen Streitkräften die Hände binden wollen bei der Selbstverteidigung des Landes. Natürlich hätte die IDF den Gazastreifen auch schneller, härter, brutaler von der Hamas befreien können – doch stattdessen entschied sich auch ein streitbarer wie umstrittener oberster Befehlshaber wie Benjamin Netanjahu für eine maßvolle, aber dennoch wirksame Ausschaltung der Hamas in Gaza. Möglichst präzise, möglichst wirkungsvoll, so wie die spektakuläre Ausschaltung der Nummer zwei der Hisbollah, Militärchef Fuad Schukr, und der Nummer eins der Hamas, Politbürochef Ismail Haniyeh, innerhalb von nicht einmal zwölf Stunden.
Die israelische Armee steht für die gesamte Gesellschaft des Landes: Von den drusischen Offizieren bis zu den jungen amerikanischen Jüdinnen, die dort freiwillig ein Jahr Wehrdienst leisten. Es ist eine bunte, diverse Armee. Schwule Offiziere sind ebenso selbstverständlich wie muslimische, christliche oder atheistische. Es ist eine Vorzeigearmee des Westens, bestens ausgebildet und technisch auf dem höchsten Stand. Ein guter Bekannter, CEO eines israelischen Digitalunternehmens, erzählt mir stets, wie sein Leben als Topmanager und als Reserve-Offizier und Luftwaffen-Pilot arrangiert werden muss. Und jedes Mal wird mir klar, dass das eine Armee der Bürger ist, dass im Zweifel jeder Israeli ein Bürger in Uniform ist. Eine – im besten Sinne! - Volksarmee.
Israelis sind die Kanarienvögel in der Kohlenmine
Das politisch-kulturelle Establishment des Westens kann mit der Wehrhaftigkeit der Israelis wenig anfangen. Die Bilder Tausender Israelis und wehrdiensterprobter Jüdinnen und Juden aus der ganzen Welt, die ihren Job als Hirnchirurgen und Immobilienmakler, Bodyguards und College-Lehrer ruhen lassen, um nach dem 7. Oktober in der IDF Israel zu verteidigen, hat die übermächtige Allianz der europäischen, arabischen, palästinensischen Antisemiten erschreckt und weiter verbittert.
Das »Nie wieder« mag bei blassen, unfähigen Uni-Präsidenten und Professoren ein schickes Accessoire für öde 9.-November-Reden sein, in Israel mobilisiert es eine der besten Armeen der Welt, geeint im Willen, der gerade epidemisch anwachsenden Vernichtungsfantasie gegenüber Israel und den Juden zu trotzen. Von Elie Wiesel gibt es das Bild der Kanarienvögel in der Kohlenmine, wenn es darum geht, die Vergiftung freier Gesellschaften zu detektieren. Diese bittere Rolle haben nun die Israelis übernommen – und zwar nicht nur die jüdischen, wie seit dem entsetzlichen Angriff auf den Sportplatz in den Golanhöhen deutlich geworden ist.
Die israelische Armee kämpft die Kämpfe vorbildlich für den Westen. Es sind die Kämpfe, die in ähnlicher Form auch dann auf den Rest des Westens zukommen, wenn er nicht endlich lernt, rote Linien zu ziehen und ernst zu nehmen.
Und so ist es nicht nur die sogenannte deutsche Staatsräson, die im Außenministerium in Berlin jede Woche brüchiger reflektiert wird, die Deutschland zu einer bedingungslosen Unterstützung der IDF bewegen sollte – sondern die Zivilgesellschaft, die liberale, die weiß, dass die Werte des Westens im Zweifel auch mit Waffengängen verteidigt werden müssen.
Der Autor ist Chefredakteur der »Welt«.