Die Nachricht ging irgendwie unter: Vor Kurzem wurde bekannt, dass Iran Uran auf 84 Prozent angereichert hat. Nuklearwaffenfähiges Uran muss auf 90 Prozent angereichert werden. Es sah also so aus, als ob das Regime in Teheran kurz vor dem Durchbruch zur endgültigen Herstellung einer Atombombe stünde. Damit schien, vor allem für Israel, eine »rote Linie« überschritten. Aber ist dem wirklich so?
Keine Frage, jeder weiß, dass Iran seit der Aufkündigung des JCPOA-Abkommens durch US-Präsident Donald Trump im Jahr 2018 sein Atomprogramm erfolgreich voranbrachte. Das Land ist heute technologisch weiter, als es ohne den Ausstieg Washingtons aus dem Nuklearvertrag möglich gewesen wäre. Ein Ausstieg, den damals Israels Premier Benjamin Netanjahu befürwortet hatte.
Gewalt Netanjahu, der seit Anfang des Jahres erneut Premier ist, hat kürzlich wieder dem iranischen Regime mit militärischer Gewalt gedroht, ja. Mehrfach hatte sich Netanjahu in den letzten Wochen mit den Generälen der Armee und den Spitzen der israelischen Geheimdienste getroffen, um über einen israelischen Angriff zu beraten. Aber wird Israel tatsächlich demnächst die iranischen Nuklearanlagen bombardieren? Die Antwort dürfte wohl ein relativ sicheres Nein sein. Dafür gibt es mehrere Gründe. Zum einen: Die Armee ist noch nicht ausreichend vorbereitet für einen solchen Auftrag. Zum anderen haben sogar die israelischen Geheimdienste versichert, dass die Anreicherung auf 84 Prozent wohl keine Absicht war, sondern eher so etwas wie, um es laienhaft auszudrücken, ein »technischer Fehler«.
Doch es gibt noch ganz andere Gründe, warum ein unmittelbarer Angriff Israels unwahrscheinlich ist: die neue strategische Situation. Iran ist inzwischen ein enger Verbündeter Russlands. Das schiitische Regime beliefert Putin mit Drohnen und anderen Waffen und erwartet dafür natürlich auch Unterstützung aus Moskau. Russland braucht den Iran nicht zuletzt deshalb, weil es durch die westlichen Sanktionen neue Handelswege erschließen muss, etwa von Aserbaidschan über den Iran hinunter zum Persischen Golf. Einen israelischen Angriff auf Nuklearanlagen in Fordo oder Natanz wird der russische Präsident nicht akzeptieren.
Aber kann er etwas dagegen tun? Sehr wahrscheinlich, dass die Iraner bald mit dem besten Luftabwehrsystem Russlands ausgestattet werden. Hinzu kommt, dass Russland den Iranern 35 SU-35-Kampfjets verkaufen will. Damit würde sich die strategische Situation im Nahen Osten massiv verändern. Parallel zum Raketenprogramm, das wie das Nuklearprogramm ebenfalls große Fortschritte macht, würden diese Jets den Iranern die Möglichkeit bieten, Atombomben in weit entfernte Regionen zu bringen, also auch nach Israel.
Die neue Achse Teheran–Moskau
bereitet Israel Kopfschmerzen.
Doch erst mal muss die angeschlagene russische Rüstungsindustrie Flugzeuge für den eigenen Krieg in der Ukraine bauen, Teheran wird wohl noch mindestens zwei Jahre warten müssen, bis es die Flugzeuge aus Moskau bekommt. Dennoch bereitet die neue Achse Moskau–Teheran Jerusalem Kopfschmerzen, schon bald könnte Iran vom Kreml einfordern, die Bewegungsfreiheit der israelischen Luftwaffe über Syrien einzuschränken. Seit Jahren greift Israel mit Genehmigung Moskaus iranische Stellungen im Nachbarland an. Immerhin haben die Israelis dafür die USA in Sachen Iran wieder enger an ihrer Seite. Washingtons Haltung gegenüber dem Regime in Teheran hat sich wegen der iranischen Drohnen über der Ukraine verhärtet, die Verhandlungen für ein neues Nuklearabkommen dürften wohl erst mal vom Tisch sein.
Kraft Israel muss für den Fall eines Bombardements im Iran noch ein Problem in Erwägung ziehen: die rund 120.000 Raketen der schiitischen Hisbollah-Miliz im Libanon. Deren Chef, Hassan Nasrallah, warnt Israel vor unüberlegten Schritten. Er hat Luftabwehrsysteme aus dem Iran erhalten, die das Operieren israelischer Flugzeuge im libanesischen Luftraum erschweren dürften, die Hisbollah hat neue Beobachtungsposten an der Grenze zu Israel errichtet. Die Organisation strotzt also scheinbar wieder vor Kraft.
Doch all das, was einen Angriff Israels im Augenblick unwahrscheinlich macht, zeigt gleichzeitig, dass Israel nur ein gewisses Zeitfenster hat, um im Falle eines Angriffs nicht einen noch höheren Preis bezahlen zu müssen, als es schon jetzt wohl der Fall wäre. Doch Netanjahu hat im Augenblick noch ein ganz anderes Problem. Da ist die wachsende Verweigerung der Reserve, zum Militärdienst zu kommen für den Fall, dass die geplante »Justizreform«, die die Unabhängigkeit des Obersten Gerichts außer Kraft setzen würde, verabschiedet wird. Erst vor wenigen Tagen erklärten sogar 37 von 40 Kampfpiloten des 69. Geschwaders, aus Protest nicht zum Training zu kommen. Das 69. Geschwader wäre ein extrem wichtiges Element für einen Luftschlag gegen Iran.
Und überhaupt, es scheint der israelischen Regierung im Augenblick wichtiger zu sein, das politische System zu verändern, als sich auf die wirklich existenziellen Bedrohungen zu konzentrieren. Wie schrieben Reservisten der Cybertech-Einheit »8200« in einem offenen Protestbrief gegen die Regierungspläne: Die Feinde Israels reiben sich angesichts der Entwicklungen im Land die Hände. Keine Frage, Teheran beobachtet die politische Krise Israels sicherlich mit großer Freude.
Der Autor ist Publizist und lebt in Tel Aviv.