Die Europäer sind schuld. Das meint zumindest Robert Gates. Der US-Verteidigungsminister hat die EU als Hauptverantwortlichen für den Verlust eines wichtigen westlichen Verbündeten ausgemacht: »Wenn denn etwas dran ist, dass die Türkei nach Osten driftet, dann nicht zuletzt, weil sie von jenen in Europa getrieben worden ist, die der Türkei die organische Anbindung an den Westen verweigert haben.« Sprich: die EU-Mitgliedschaft.
Dass Ankara die Israelis mit feiner Hand in die Falle des Gaza-Blockadebrechers Mavi Marmara lockte, dann unter der grünen Flagge des Propheten einen Propagandakrieg gegen Jerusalem entfesselte und im UN-Sicherheitsrat zusammen mit Brasilien das vierte Sanktionspaket gegen Iran verwarf, war aber nicht der EU geschuldet, auch nicht Tagestaktik. Das waren weitere Signale einer strategischen Gewichtsverschiebung in der türkischen Außenpolitik.
Dienste Mal sind es Paukenschläge wie die demonstrative Einladung des iranischen Präsidenten Ahmadinedschad nach Ankara. Mal läuft das Spiel über die Bande, wie im Fall der Gaza-Flottille, die in der Türkei aufgestellt wurde. Hauptorganisator und -finanzier ist der islamische Wohlfahrtsverband IHH, dem diverse Dienste eine Hamas-Connection nachsagen. Auch passt die Mavi Marmara gut zu jener Wende, die 2001 in dem Buch Stratejik Derinlik (»Strategische Tiefe«) vorgezeichnet wurde. Verfasst hat es der heutige Außenminister Ahmet Davutoglu. Das Traktat liest sich wie ein Aufguss geopolitischer Pseudowissenschaft vom Beginn des 20. Jahrhunderts.
Für den Außenminister ist die Türkei das »Epizentrum des Balkans, des Mittleren Ostens und des Kaukasus, mithin das Zentrum Eurasiens«, wenn nicht gar der Weltpolitik, weil sie in der Mitte des Gürtels liege, der sich von der Gegenküste des Atlantiks über das Mittelmeer zum Pazifik ziehe. Hinzu kommt der religiös-ideologische Anspruch der Türkei als »muslimische Supermacht«. Auf jeden Fall sei Ankaras traditionelle Rolle als Außenposten der Nato falsche Bescheidenheit gewesen, doziert Davutoglu. Das war die »Selbstentfremdung«, umso mehr, als die »Muslime seit Ende des Osmanischen Reiches immer das kürzere Ende gezogen haben. Die AKP wird das alles korrigieren.«
Allianzen Wohin steuert die Türkei? Das hängt davon ab, wo sie hin will – und um welchen Preis. Ist das Ziel eine strategische Neuausrichtung oder bloß Protz- und Trotzhaltung? Will Ankara die USA als Hauptmacht aus Mittelost verdrängen und deren »Festlandsdegen« Israel zermürben oder bloß eine klassische Aufsteigerpolitik betreiben, die hier sabotiert, dort konterkariert, um so eine höhere Prämie für die Kooperation herauszuschlagen? Fest steht: Die Türkei spielt mit ganz neuen Allianzen. Dazu gehören der einstige Todfeind Syrien, der Konkurrent Iran, der Amerika-Rivale Brasilien. Ein neues Schurkenstaat-Quartett? Nennen wir es lieber die »Riege der Revisionisten« oder die »Union der Unzufriedenen«, die in die erste Reihe der Weltpolitik streben – mit wachsender Wirtschaftskraft wie Brasilien, mit Atomwaffen wie Iran oder mit schierem Störpotenzial wie das kleine Syrien.
Trumpfkarte Wollte die Türkei den Vermittler zwischen Palästinensern und Israel spielen, würde sie sich nicht mit dessen Todfeinden ins Bett legen. Erdogan nennt inzwischen den Damaszener Diktator Assad seinen »Bruder«. Wenn Ankara die Atombewaffnung Irans verhindern wollte, würde es nicht, wie Mitte Mai, in letzter Minute einen Deal einfädeln, der die drohenden UN-Sanktionen torpedieren sollte. Die Trumpfkarte im türkischen Spiel, die immer sticht, ist die Israelfeindschaft. Erstens zu Hause, wo eine BBC-Umfrage im April den Israelis eine 77-Prozent-Abneigungsquote bescheinigte. Zweitens in der arabischen Welt, wo Erdogan als der neue Held des Islams gefeiert wird, nachdem er 2009 auf dem Weltwirtschaftsforum von Davos einen kalkulierten Wutausbruch (»Ihr wisst, wie man tötet«) gegen den israelischen Präsidenten Peres inszenierte. Henri Barkey, Türkei-Experte des Washingtoner Carnegie Endowment, greift mit Blick auf die neue Außenpolitik der Regierung Erdogan zu einer harten Formulierung: »Die Türken leiden an einer aufgeblasenen Wahrnehmung ihrer eigenen Wichtigkeit.«
Das Osmanische Reich, das einst zwischen Balkan und Basra herrschte, war in der Tat eine Großmacht, bis es Ende des 19. Jahrhunderts vom Westen und von Russland Stuck um Stuck demontiert wurde. Nach dem Zweiten Weltkrieg begann der »Kranke Mann am Bosporus« wieder zu genesen – unter dem Schirm der Nato und im Verbund mit der Europäischen Union. Das hat der Turkei einen gewaltigen Wachstums- und Modernisierungsschub verschafft; eine Großmacht ist sie nicht,
nicht einmal ein hilfreicher Makler. Mittler mussen die Mitte halten. Erdogan und sein Außenminister Davutoglu haben sie geräumt. Ohne Not und Nutzen.
Dieser Text beruht auf einem Beitrag in der »Zeit«. Der Autor, Herausgeber der in Hamburg erscheinenden Wochenzeitung, hat ihn fur die Judische Allgemeine uberarbeitet