Manchmal stelle ich mir im Albtraum vor, dass ich mich bei einem Dinner mit Stephen Miller wiederfinde. Wahrscheinlich ist das nicht (vor allem nicht im Moment), aber ganz ausgeschlossen ist es auch nicht. Stephen Miller gehört zu den engsten Beratern des amerikanischen Präsidenten. Er hat Trumps unbarmherzige Anti-Einwanderer-Politik mitzuverantworten.
Er hat in E-Mails Artikel weiterempfohlen, die in rassistischen Magazinen erschienen sind. Was würde ich Stephen Miller sagen, wenn ich bei einem Dinner neben ihm sitzen müsste? Würde ich ihn auf seine Vorfahren mütterlicherseits ansprechen, die vor den Pogromen in Bessarabien flohen? Auf seine Urgroßmutter, die kein Wort Englisch, sondern nur Jiddisch sprach?
fremde Würde ich zu Stephen Miller sagen: »Sei a mensch«? Würde ich ihn daran erinnern, dass die Tora gebietet, den Fremdling zu lieben, weil wir selbst Fremde waren in Ägyptenland? Wahrscheinlich würde ich gar nichts zu ihm sagen. Ich würde denken: Dieser Mensch hat ein Herz aus Stein, und keines meiner Worte könnte es je erreichen.
Wahrscheinlich würde ich schweigen. Aus Höflichkeit, aus Feigheit, aus resignierter Einsicht, dass es ja doch nichts bringt.
Und manchmal stelle ich mir vor, dass ich irgendwo — sagen wir, in der Upper West Side — eine junge Jüdin treffe, die sich selbst für eine Linke und Israel für einen rassistisch-faschistischen Apartheidstaat hält.
Welches Argument würde ich für sie hervorkramen? Dass die Beta Israel Hunderte Kilometer aus Äthiopien gewandert sind, um in diesen angeblichen Rassistenstaat zu gelangen? Dass es in Israel freie Wahlen und eine freie Presse gibt? Dass sie sich glücklich schätzen kann, weil ihre Vorfahren rechtzeitig nach Amerika ausgewandert sind? Dass ein paar Millionen europäischer Juden nicht so glücklich waren, sich aber vor Hitler hätten retten können, wenn es 1933 einen noch so kleinen jüdischen Staat gegeben hätte? Dass es ein Riesenunterschied ist, ob man die israelische Besatzungspolitik ablehnt – das tun auch viele Israelis –, oder ob man den Staat Israel in Grund und Boden verdammt?
feigheit Wahrscheinlich würde ich schweigen. Aus Höflichkeit, aus Feigheit, aus resignierter Einsicht, dass es ja doch nichts bringt.
Die nichtjüdische Welt hat sich im letzten Jahrzehnt radikalisiert. Sie ist in verschiedene elektronische Stämme zerfallen, die auf Twitter und Facebook gegeneinander Krieg führen. Da Juden nicht hinter dem Mond leben, hat diese Entwicklung auch sie erfasst.
Es könnte passieren, dass wir miteinander streiten, und das wäre wenigstens etwas.
Die Mehrheit der Juden gehört natürlich weder zu den Idioten, die sich allen Ernstes einbilden, sie könnten mit weißen Rassisten paktieren, noch zu den Trotteln, die meinen, es würde ihnen etwas bringen, wenn sie sich mit linken Antisemiten gemein machen. Aber eine nicht unwesentliche Minderheit kapiert das keineswegs.
Und ich weiß, wie oben schon zart angedeutet, nicht, wie man mit diesen Leuten reden soll. Gerade eben habe ich es übrigens noch schlimmer gemacht: Ich habe sie als Trottel und Idioten beschimpft – ein Zeichen meiner Hilflosigkeit, aber kein Argument.
multikulti Vielleicht müsste das Gespräch so beginnen, dass ich beiden Seiten erkläre, warum ich sie ziemlich gut verstehe. Den jüdischen Trump-Anhängern (oder den jüdischen Fans der AfD, die es auch geben mag) würde ich sagen: Ich teile eure Angst. Es könnte sein, dass es in der künftigen, der bunt gemischten Multikulti-Welt für alle möglichen und unmöglichen Ethnien Platz gibt – nur nicht für Juden.
Es könnte sein, dass ausgerechnet die Juden für die Verbrechen des westlichen Kolonialismus verantwortlich gemacht werden. Erste Anzeichen gibt es schon: Unter schwarzen Amerikanern kursiert jetzt seit zwei Generationen ein verlogenes Machwerk, in dem allen Ernstes steht, Juden hätten den transatlantischen Sklavenhandel organisiert.
Mir leuchtet ein, dass man aus Verzweiflung darüber auf die Schnapsidee kommen kann, ein Donald Trump (oder sonst irgendein starker Mann) könnte die Juden vor dem Schlimmsten beschützen. Es ist aber trotzdem eine Schnapsidee.
Auf jeden Fall sollten wir zumindest versuchen, ins Gespräch zu kommen.
empörung Der jüdischen Linksradikalen würde ich entgegenhalten: Ich verstehe deine Empörung über den amerikanischen Rassismus. Ich teile dein Entsetzen, dass Israel sich unter Bibi Netanjahu mit Rechtsradikalen verbrüdert hat. Ich mag ethnische Nationalstaaten eigentlich auch nicht besonders. Aber da es sie nun einmal gibt (siehe Griechenland, siehe Deutschland), sehe ich nicht ein, wieso ausgerechnet die Juden keinen Nationalstaat verdient haben sollten. Und Juden, die im Namen der Menschheit – einer Abstraktion – ihr konkretes Jude-Sein verleugnen, machen sich lächerlich.
Wahrscheinlich würden weder Stephen Miller noch meine erfundene jüdische Antizionistin aus der Upper West Side mit mir übereinstimmen. Aber es könnte passieren, dass wir anfangen, miteinander zu streiten, und das wäre wenigstens etwas.
Der Streit mit Stephen Miller würde etwas lauter ausfallen. Denn dieser Mann hat (im Moment noch) die Macht, während die linke Antizionistin einfach nur dummes Zeug redet. Aber das mag sich schon morgen wieder ändern. Auf jeden Fall sollten wir zumindest versuchen, ins Gespräch zu kommen. Schließlich gehört auch der »böse Sohn« zur Pessach-Haggada.
Der Autor ist deutsch-amerikanischer Journalist und Korrespondent der »Welt« in New York.