Die Republik Österreich ist ein wohlhabendes und stabiles Land. Die Wirtschaft wächst, die Arbeitslosenrate sinkt, das Sozialsystem ist besser als beim deutschen Nachbarn, die Kriminalitätsrate eine der niedrigsten in Europa. Trotz alledem und auf den ersten Blick überraschend ist gerade Österreich die europäische Heimat des Rechtspopulismus.
Hier gab es Wutbürger in großer Zahl, als der Ausdruck Wutbürger noch nicht erfunden war, und als die jüngeren Funktionäre der AfD noch nicht einmal geboren waren, feierte Jörg Haiders FPÖ mit fremdenfeindlichen Parolen schon große Wahlerfolge.
Der Ausgang der österreichischen Nationalratswahlen ist der bislang traurige Höhepunkt einer gesellschaftlichen Verschiebung nach rechts. Das Programm der einst christlich-konservativen ÖVP des Wahlsiegers Sebastian Kurz unterscheidet sich praktisch kaum von jenem der rechtsradikalen FPÖ. Eine »türkis-blaue« Koalitionsregierung aus Liste Kurz (ÖVP) und FPÖ ist nun sehr wahrscheinlich.
Grenzen Welche Konsequenzen hat das für Deutschland und für Europa? Und was bedeutet das für die jüdische Minderheit? Um dies zu beantworten, sollte man verstehen, warum der Rechtspopulismus gerade in Österreich so stark ist. Die Österreicher sind im Durchschnitt nicht nationalistischer als andere Europäer. Im Gegenteil: Die österreichische Nation im Sinne eines Bekenntnisses zur Republik in den heutigen Grenzen ist relativ jung, die Identifikationsräume der Menschen sind hauptsächlich lokal.
Die Zugehörigkeit gilt primär einer Region, einer Stadt oder einem Bundesland. Österreichs Geschichte besitzt kein dominantes positives Narrativ, das alle, ob Migranten oder Einheimische, vereinen könnte, hier gab es keine »Französische Revolution«, keine republikanische Idee mit einigender Wirkung, und Österreich hat auch nicht im selben Maße wie Deutschland das identitätsstiftende Selbstverständnis entwickelt, als demokratisches Gegenmodell zur besiegten NS-Diktatur gegründet worden zu sein.
Unter solchen Voraussetzungen können sich »Patrioten« leichter als anderswo zu Faschisten entwickeln. Es gibt keine Idee der Inklusion, weder eine nationale oder gar eine europäische, sondern die Abwehr als verbindendes Element. Der Staat und seine »Eliten« werden als korrupter Moloch gesehen und oft genauso als Bedrohung der eigenen kleinen Welt mit ihrer Alltagskultur und lokalen Traditionen wahrgenommen wie Zuwanderer und Flüchtlinge, Muslime, Feministinnen oder der »Gender-Wahn«.
Ideologie Der österreichische Rechtspopulismus bietet – in einem Land, das im Kern unpolitisch ist – keine klaren Ideologien an, er ist nicht einmal wirklich nationalistisch wie die AfD in Deutschland, der Front National in Frankreich oder gar die rechten Parteien in Osteuropa, sondern vielmehr eine Bewegung zur Verteidigung des Privaten gegen die Welt.
Eben das aber macht die österreichischen Rechtspopulisten auch für den Rest Europas so gefährlich, denn fast alle, die weit rechts der Mitte stehen, ob Erzkonservative oder Rechtsradikale, können sich mit Kurz, Strache und deren Entourage identifizieren, können sie als Vorbilder sehen und sich immer wieder auf deren Erfolge berufen: Die blaue oder türkisfarbene Hülle ist attraktiv, sie ist rechtspopulistischer Mainstream auf höchstem Niveau, den Inhalt kann jeder individuell füllen, wie er mag. Österreichs Rechte sind für andere Rechte, besonders für jene in Deutschland, die ideale Projektionsfläche. Manche verbinden ihre »Merkel muss weg!«-Parolen nun mit dem Slogan: »Sebastian Kurz ist der Hoffnungsschimmer Europas!«
Dirty-Campaigning Die »Austrifizierung« Europas führt aber unweigerlich zum Siegeszug der reaktionären Utopie, der die Idee des eingezäunten heimatlichen Ackers, in dessen Mitte statt einer Vogelscheuche ein echter Jäger mit Gewehr steht, zugrunde liegt. Zwar wird die AfD niemals so stark werden wie die FPÖ, und die CDU wird sicher nicht zu einer deutschen Variante der Liste Kurz mutieren – dafür ist die deutsche Zivilgesellschaft zu stark, das Nachdenken über Grundsatzfragen intensiv genug –, ein weiterer Rechtsruck und die Übernahme politischer Methoden wie Dirty-Campaigning sind aber sowohl für Deutschland als auch für andere Länder zu erwarten.
Uns Juden muss klar sein, dass der Rechtspopulismus eine reale Gefahr darstellt. Politiker dieser Bewegungen mögen sich noch so oft als Unterstützer Israels bezeichnen und vor dem Antisemitismus muslimischer Migranten warnen, zu unseren Freunden werden sie dadurch nicht, auch wenn manche Juden dies glauben wollen.
Der österreichische Wahlkampf mit seinen antisemitischen Untertönen zeigt dies genauso deutlich wie manche Aussagen von Höcke oder Gauland. Dennoch wäre es falsch, die Anhänger rechter Parteien zu ignorieren, lächerlich zu machen oder gar ihre Veranstaltungen zu stören. Stattdessen sollte man ihnen, wann immer es geht, sachlich und mit aller Schärfe argumentativ entgegentreten. So zeigt man Haltung und setzt Grenzen. Jene, die man damit wirklich zum Nachdenken anregt, könnten bei einer der knappen Wahlentscheidungen der Zukunft sehr wohl ausschlaggebend sein.
Der Autor ist Schriftsteller in Salzburg. Zuletzt erschien von ihm der Roman »Lucia Binar und die russische Seele«.