Am Donnerstag, dem Jom Haschoa, gedenkt Israel der Opfer des Holocaust. Wenn vormittags für zwei Minuten die Sirenen ertönen, ruht landesweit jegliche Tätigkeit. In Deutschland steht das Gedenken dagegen in einem harten Wettbewerb mit dem Bedürfnis nach Vergessen.
Die Auseinandersetzungen darüber spiegeln sich auch in den Prozessen wider, die den NS-Tätern seit 1963, seit den Frankfurter Auschwitz-Prozessen, gemacht werden – so wie derzeit in Neubrandenburg und Detmold. Wird es in dem einen Verfahren gegen einen SS-Sanitäter aus dem KZ Auschwitz, dem Beihilfe zum Mord in mindestens 3681 Fällen vorgeworfen wird, aufgrund der gesundheitlichen Probleme des Angeklagten wohl zu keinem Urteil mehr kommen, erweist sich der Detmolder Prozess als durchführbar – angeklagt ist ein 94-jähriger ehemaliger SS-Wachmann, ebenfalls wegen Beihilfe zum Mord.
heute-journal In der vergangenen Woche berichtete das ZDF heute journal darüber. In seiner Anmoderation setzte sich Claus Kleber mit potenziellen Einwänden auseinander, die dem Verfahren 70 Jahre später den Sinn absprächen, um dann fortzufahren: »Rache und Sühne können heute keine Gründe mehr für solche Prozesse sein.«
Rache und Sühne? Der Begriff Rache gehört zu keiner juristischen Kategorie, sondern stellt ein Handeln von Betroffenen dar, erlittenes Unrecht unter Umgehung der Gerichtsbarkeit ohne Gehör des Beschuldigten selbstständig zu ahnden.
Reproduzieren also diejenigen, die so argumentieren, hier vielleicht ein altes christliches Vorurteil, das den Juden ein »alttestamentarisch« bedingtes Rachebedürfnis unterstellt? Demnach wäre die deutsche Justiz in der Vergangenheit hauptsächlich von den Rachegefühlen der Opfer angetrieben worden, der Eichmann-Prozess nicht rechtsstaatlicher Natur, sondern ein »Akt der Rache«.
Einzeltäter Die NS-Verbrechen waren das Resultat des Zusammenwirkens vieler Einzeltäter, die nach heutigem Verständnis für ihr Handeln verantwortlich zu machen sind. Letzteres war lange umstritten, weil die Schuld früher nur einer kleinen Führungsschicht angelastet werden sollte.
Jede staatliche Gemeinschaft muss – um ihr verbindliches Wertesystem aufrechtzuerhalten – all diese Verbrechen ahnden und sühnen: als öffentliches Anliegen. Prozesse gegen NS-Täter werden für uns alle geführt, und der Verzicht darauf wäre ein Schaden für die gesamte Gesellschaft. Deshalb müssen solche Täter – solange sie verhandlungsfähig sind – vor Gericht gebracht werden.
Der Autor ist Wissenschaftshistoriker am Deutschen Museum München.