Fährt man mit dem Autobus durch das Westjordanland, ist er auf jeder Hügelkette zu sehen, in Bethlehem zudem aus allernächster Nähe zu betrachten: jener stacheldrahtbewehrte Wall, den der israelische Staat als Schutz vor palästinensischen Selbstmordattentätern errichtet hat und der als sichtbare Markierung jener Grenze dient, die der Staat Israel unter allen Umständen beansprucht. In dieser Mauer wird die politische Utopie eines illusionslosen Zionisten der Zwischenkriegszeit materielle Wirklichkeit.
»Eiserner wall« Vor mehr als 90 Jahren, im November 1923, erschien in Paris eine russische Zeitschrift jüdischer Emigranten mit dem Titel »Rasswet« – zu Deutsch »Dämmerung«. In einem Leitartikel unter der Überschrift »Der eiserne Wall« zeigt sich der Autor, der glaubwürdig für die Gleichberechtigung aller Völker eintritt, davon überzeugt, dass es niemals zu einem freiwilligen, friedlichen Ausgleich zwischen jüdischen Kolonisten und Arabern in Palästina kommen werde, da sich noch nie im Lauf der Geschichte die Kolonisierten freiwillig den Kolonisatoren ergeben hätten.
Die Araber Palästinas, so der Autor, »empfinden für Palästina dieselbe eifersüchtige Liebe wie die alten Azteken für das antike Mexiko und die Sioux für ihre ›rollenden‹ Prärien«.
In scharfer Abgrenzung gegen die von zionistischen Politikern wie Chaim Weizmann vertretene Synthese von Siedlungsbau im Land und internationalen diplomatischen Anstrengungen ist dieser Autor davon überzeugt, dass der Zionismus entweder seine Bemühungen einstellen oder seine Interessen ohne jede Rücksichtnahme auf die eingeborene Bevölkerung vorantreiben müsse.
Das aber sei nur im Schutze eines »Eisernen Walls« möglich, also einer Armee aus jüdischen oder britischen Soldaten. Dem Autor ist bewusst, dass diese militärische Staatsgründungspraxis umstritten ist, indes: »Wir sind der Überzeugung, dass der Zionismus moralisch und gerecht ist. Und weil er moralisch und gerecht ist, muss Gerechtigkeit geschehen – gleichgültig, ob Joseph oder Simon, Iwan oder Achmed dem zustimmen oder nicht.«
odessa Der Verfasser dieser Zeilen, Wladimir Zeev Jabotinsky, wurde 1880 in Odessa als Sohn einer jüdischen, bürgerlichen Familie geboren, die als »assimiliert« gelten konnte. Sein 1935 geschriebener, vor zwei Jahren, 2012, erstmals auf Deutsch publizierter Roman Die Fünf lässt das Flair des Odessas jener Jahre, dieser Stadt am Meer, auferstehen. So erzählt Jabotinsky in luzider, niemals anklagender Prosa vom Leben, Lieben und Leiden einer assimilierten jüdischen Familie, um mit diesen Worten zu schließen: »Es war eine komische Stadt; aber auch Lachen ist Zärtlichkeit. Doch jenes Odessa gibt es vermutlich nicht mehr, und ich brauche es nicht zu bedauern, dass ich nicht mehr dorthin gelangen werde.«
Jabotinsky, der eine russische Schule besuchte, religiös erzogen wurde und auch Hebräisch lernte, hatte dennoch nach eigener Auskunft keinen inneren Kontakt zum Judentum. Nach dem Abitur ging er 1898 nach Bern und Rom, um Jura zu studieren und unter dem Pseudonym »Altalena« als Korrespondent zweier Odessaer Zeitungen zu wirken.
In Rom wurde Jabotinsky, der den Marxismus als »mechanistisch« ablehnte, zunächst zum Sozialisten, dann zum Individualisten und Nationalisten. Jahre später bekannte er, dass Italien sein geistiges Vaterland sei und gab zu Protokoll, dass der Mythos des Einigers Italiens, Garibaldis, die Arbeiten des Republikaners Mazzini und die Lyrik Leopardis seinen – wie er selbst schreibt – »seichten Zionismus« von einem instinktiven Gefühl zu einer begründeten Weltsicht fortgebildet hätten. Tatsächlich übersetzte er schon vor dem Ersten Weltkrieg größere Teile aus Dantes Inferno ins Hebräische.
weltkrieg 1901 nach Odessa zurückgekehrt, wurde Jabotinsky unter dem Eindruck der Pogrome von Kischinew 1903 zum Zionisten, um noch im gleichen Jahr am sechsten Zionistenkongress in Basel teilzunehmen, Theodor Herzl persönlich kennenzulernen und fortan mit seiner großen Sprachbegabung – er beherrschte Russisch, Hebräisch, Jiddisch, Englisch, Italienisch und Französisch – rastlos als Agitator für die Gründung eines jüdischen Staates in Palästina zu wirken. 1908 entsandte ihn die Zionistische Exekutive ins Osmanische Reich, um über die jüdische Besiedlung Palästinas zu verhandeln – erste Gelegenheit, das Territorium des angestrebten Staates selbst in Augenschein zu nehmen.
Nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges traf Jabotinsky als Korrespondent von Moskauer Zeitungen im ägyptischen Alexandria einen jüdischen Kriegsveteranen der Armee des Zaren, Joseph Trumpeldor. In Alexandria hielt sich eine Gruppe jüdischer Siedler aus Palästina auf, die von den jungtürkischen Behörden dorthin deportiert wurden, da sie im Verdacht standen, mit Großbritannien zu kollaborieren.
Gemeinsam mit Trumpeldor, der am russisch-japanischen Krieg teilgenommen hatte, entwickelte Jabotinsky die Idee einer »Jüdischen Legion«, die zunächst zu nichts anderem als zur Gründung eines »Zion- Maultier-Korps« führte, einer aus Juden bestehenden Transportkompanie im britischen Heer.
1917 gab das britische Oberkommando Jabotinskys Drängen nach und errichtete schließlich das »38th Battalion of Royal Fusiliers«, das als Zeichen eine Menora aufwies. Jabotinsky meldete sich zu den Fahnen und wurde sogar dafür ausgezeichnet, die Truppe über den Jordan geführt zu haben. Wegen seiner politischen Agitation für einen jüdischen Staat von der britischen Mandatsmacht in der Festung Akko eingesperrt, wurde er 1921 freigelassen und zu einem Helden des Jischuw.
programm Im selben Jahr, während der pogromartigen Wirren des ukrainischen Bürgerkrieges verhandelte Jabotinsky, der stets mit der ukrainischen Nationalbewegung sympathisiert hatte, erfolglos mit Emissären der ukrainischen Exilregierung unter Petlura, die Juden in der Ukraine zu verschonen.
Erfolglos. Unzufrieden mit dem zögerlichen Vorgehen der Zionistischen Weltorganisation, gründete er zunächst 1925, dann noch einmal 1935 eine weitere, dissidentische zionistische Organisation, der es um die Wiederbelebung von Herzls ursprünglichen Staatsgründungsgedanken, die Ablehnung jedweden Kompromisses mit den Arabern, einen radikalen Wandel der britischen Politik zugunsten jüdischer Einwanderung sowie um einen jüdischen Staat an beiden Ufern des Jordan ging.
Dieser Staat sollte der arabischen Minderheit gleiche Rechte in kulturellen und religiösen Angelegenheiten garantieren. So trat Jabotinsky stets dafür ein, einem jüdischen Präsidenten des künftigen Judenstaates einen arabischen Vizepräsidenten an die Seite zu stellen.
Nach der Machtübernahme Hitlers warnte Jabotinsky unermüdlich vor der Gefahr, die der Nationalsozialismus für die europäischen Juden bedeutete und trat entschieden für einen Boykott HitlerDeutschlands sowie gegen das Haavara-Abkommen ein. Das nationalsozialistische Regime revanchierte sich mit einem gegen ihn gerichteten Pamphlet des NS-Agitators Alfred Rosenberg unter dem Titel Der staatsfeindliche Zionismus.
warner Im selben Zeitraum – Monate vor Hitlers Überfall auf Polen – warb Jabotinsky bei den Regierungen Polens, Rumäniens und Ungarns für einen »Evakuierungsplan«, also dafür, eine Massenauswanderung von anderthalb Millionen europäischer Juden nach Palästina zu fördern – eine Initiative, die sowohl im polnischen als auch im amerikanischen Judentum heftig abgelehnt wurde.
In äußerster Hellsicht analysierte er brieflich schon im Sep-tember/Oktober 1939 die Lage: So sei das osteuropäische Judentum, das Hauptpotenzial des Zionismus, zerstört und der restliche Teil von der Sowjetunion geschluckt. Der Jischuw in Palästina aber sei letztlich ohnmächtig: Im besten Fall werde es zur Aufstellung jüdisch-arabischer Truppen kommen, die doch lediglich den ungeklärten Status quo Palästinas befestigen würden.
Im Februar 1940 verließ Jabotinsky Europa in Richtung USA, wo er im August beim Besuch einer zionistischen Jugendorganisation nahe New York einem Herzinfarkt erlag. Der damalige Führer des Jischuw, sein Intimfeind David Ben Gurion, lehnte eine Überführung seiner sterblichen Überreste mit der Begründung ab, dass Israel keiner toten, sondern lebendiger Juden bedürfe. Erst Premierminister Levi Eschkol korrigierte dies 1964 und ließ Jabotinskys Überreste auf dem Herzlberg beisetzen.
aufrichtig Der Historiker Michael Stanislawski hat Jabotinsky in einer präzisen Studie als »kosmopolitischen Nationalisten« bezeichnet. Während ihn seine politischen Feinde – vor allem sozialistische Zionisten wie Ben Gurion – als »Faschisten« attackierten, weil er in Mussolinis Italien von 1934 bis 1938 eine Marineschule unterhielt, sehen andere in ihm einen liberalen Individualisten, dem die Rechte des Individuums mehr galten als die Interessen weltanschaulicher Gemeinschaften.
Dass Wladimir Jabotinsky kein rückwärtsgewandter ethnisch-nationalistischer Schwärmer war, wird aber auch in seinem 1927 geschriebenen Roman über den biblischen Helden Samson deutlich, der unter dem Titel Richter und Narr im vergangenen Jahr neu auf Deutsch aufgelegt wurde. Diese Erzählung aus einer mythischen Vorzeit der Juden lässt keinen Zweifel daran, dass Samson, dieser an den Siegfried der Nibelungen erinnernde Held aus dem Stamme Dan, ein in sich zerrissener Mensch war, der alles, was er schließlich wurde, der verfeinerten Kultur der (griechischen) Philister verdankte.
Heute lässt sich nicht sagen, welche Haltung Jabotinsky zu den fundamentalistischen und die Araber hassenden Siedlern des Gusch Emunim einnehmen würde. Dass er aufrichtiger war als die meisten zionistischen Theoretiker, deren Lavieren zwischen Nationalismus und Sozialismus der israelische Faschismusforscher Zeev Sternhell analysiert hat, unterliegt keinem Zweifel.
In der Marxismusdebatte der 80er-Jahre war oft vom »westlichen Marxismus« die Rede – womöglich läßt sich Wladimir Zeev Jabotinskys Anliegen als »westlicher Zionismus« bezeichnen. Dass auch dieses Programm höchst problematisch ist, war niemandem bewusster als diesem – so Jabotinskys Biograf Joseph Schechtman – »Rebellen und Staatsmann«, diesem »Kämpfer und Propheten.«