Soziale Medien

Raus aus X?

Pro: »Hassrede und die Erosion von Glaubwürdigkeit gefährden das eigene Anliegen«, meint Christoph Heubner.

Robert Habeck entschied sich kürzlich, nach langer Abstinenz bei Twitter zu X zurückzukehren. Das ZDF interpretierte diese Rückkehr als realistischen Beitrag zur Kanzlerkandidatur: Wer demnach Kanzler in Deutschland werden möchte, kann und darf auf die Möglichkeiten, die X bietet, nicht verzichten. Habeck selbst ließ verlauten, er wolle X nicht den populistischen Trommlern und rechtsextremen Hassaposteln überlassen. Wer möchte dem widersprechen? Aber natürlich verstehen wir jetzt auch, warum Twitter in diese Abwärtsspirale des Missbrauchs und der Übernahme durch Musk geraten ist: Eben weil aufrechte Demokraten wie Habeck ausgestiegen sind und Twitter so lange sich selbst überließen, bis Elon Musk sich in Twitters Leben drängte und es zu X mutieren ließ.

Und nun lässt sich tagtäglich auf allen medialen Ebenen verfolgen, wie allumfassend und omnipräsent Beiträge von Politikerinnen und Politikern auf X als Meinungsäußerungen und Belege ihrer politischen Präsenz und Bedeutung herangezogen und abgebildet werden und X selbst durch jedes dieser Zitate erneut seine vorherrschende Bedeutung bescheinigt wird: Wer in der Macht ist und in der Macht bleiben will, muss dabei sein. Würde man jedoch das, was auf X tagtäglich an bizarren, antisemitischen und hasserfüllten Äußerungen als Desinformation in die Welt gesetzt wird, auf die analogen Seiten einer Tageszeitung in Wien, Paris oder London übertragen, viele Leserinnen und Leser würden sich ebenso mit Grausen abwenden wie Abonnenten, Anzeigenkunden oder politische Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner aus demokratischen Parteien.

»Durch die Einführung von bezahlten Verifizierungen hat X seine Glaubwürdigkeit untergraben«, sagt Christoph Heubner.

Womit wir beim Punkt wären. Nämlich sich erneut vor Augen zu führen, was Elon Musk seit seiner Machtübernahme bei Twitter verändert hat und wie das neu entstandene Portal X zum Ausdruck seines Weltbildes und seiner politischen Machtansprüche geformt worden ist und tagtäglich geformt wird.

Ein zentraler Punkt ist hierbei Musks Haltung zur Moderation und zur Kontrolle: Er reduzierte das Team, das für die Überwachung von Inhalten verantwortlich war, drastisch. Zudem führte er ein Abonnement-Modell für die Verifizierung von Nutzern ein, bei dem der berühmte blaue Haken nicht mehr für Authentizität oder Glaubwürdigkeit steht, sondern für zahlende Nutzer. Dies hat zur Folge, dass auch kontroverse oder extremistische Stimmen leichter Verbreitung finden können.

Seit der Übernahme durch Elon Musk haben Untersuchungen gezeigt, dass antisemitische Inhalte bei X zugenommen haben. Laut Studien stiegen die Fälle von Hassrede und extremistischen Aussagen signifikant an, da Musk die Moderation von Inhalten als »zensorisch« ablehnt und einen »liberalen« Umgang mit Meinungsfreiheit propagiert. Dies schafft ein toxisches Umfeld, in dem Organisationen, die für Toleranz und Aufklärung stehen, schwer Fuß fassen können. Für das Internationale Auschwitz Komitee, das oft auch Zielscheibe von Hass und Verleumdungen ist, ist es untragbar, in einem solchen Umfeld aktiv zu sein.

Deshalb haben wir uns für den Wechsel zu Bluesky entschieden.
Denn durch die Einführung von bezahlten Verifizierungen hat X seine Glaubwürdigkeit als Plattform für authentische Informationen untergraben. Historische Organisationen wie das Internationale Auschwitz Komitee müssen sicherstellen, dass ihre Inhalte nicht in einem Meer von Desinformation untergehen oder mit gefälschten Accounts verwechselt werden.

Es gab bereits Fälle, in denen antisemitische oder revisionistische Accounts den Eindruck erweckten, seriöse Organisationen zu sein, was zu Verwirrung und Schaden führen kann.

Ein weiterer Grund, warum das Auschwitz-Komitee nunmehr Schwierigkeiten hat, X als Plattform zu nutzen, ist die ethische Dimension der Zusammenarbeit mit einer Organisation, die zunehmend extremistische Stimmen zulässt. Die Kooperation mit einer Plattform, die es nicht schafft, Hassrede konsequent einzudämmen, könnte als stillschweigende Akzeptanz dieser Zustände wahrgenommen werden. Dies wäre ein untragbares Risiko für eine Organisation, deren Existenzgrundlage die Verteidigung der Menschenrechte und das Gedenken an die Opfer des Holocaust ist.

Die Argumente gegen eine Präsenz des Auschwitz-Komitees bei X überwiegen deutlich. Die Zunahme von Hassrede, die Erosion von Glaubwürdigkeit und die ethischen Bedenken machen es unmöglich, auf X tätig zu sein, ohne das eigene Anliegen zu gefährden.

Für Organisationen, die für Respekt, Toleranz und historisches Bewusstsein kämpfen, gibt es Alternativen. Es bleibt zu hoffen, dass diese Alternativen weiter­entwickelt werden, sodass Foren entstehen, die verantwortungsvoll und respektvoll mit den Inhalten umgehen, die von unschätzbarem Wert für unsere Gesellschaft sind. Bis dahin ist X unter Elon Musk keine vertrauenswürdige Plattform für solch wichtige Aufgaben.

Der Autor ist Exekutiv-Vizepräsident des Internationalen Auschwitz Komitees.


Contra: »Es ist wichtig, dass wir auch auf dieser Plattform dagegenhalten«, findet Sarah Cohen-Fantl

Eines vorweg: Ich habe schon mehr als einmal daran gedacht, die Social-Media-Plattform Twitter – mittler­weile X – zu verlassen. Zur ganzen Wahrheit gehört aber auch, dass ich am liebsten die gesamte Internet-Welt hinter mir lassen würde, in der Hoffnung, dass dadurch der Judenhass und das Böse, dem wir tagtäglich online ausgesetzt sind, gleich mit verschwinden würden. Ich kann also jeden verstehen, der sich dem nicht mehr aussetzen möchte.

Aber genau das ist einer der Gründe, warum ich – noch – an X festhalte: Das Böse, in diesem Fall in Form von selbst ernannten Journalisten, selbstgerechten Aktivisten, populistischen Politikern und alteingesessenen Judenhassern, die ihre einseitige, antizionistische und falsche Berichterstattung zu Israel eint, verschwindet ja nicht, nur weil ich mich oder weil sich andere jüdische Accounts von dieser Plattform verabschieden.

Das Einzige, was passiert, ist, dass die Tausenden Menschen, die auf meiner Seite stehen, irgendwann nur noch Hamas- und Nazi-Propaganda ausgesetzt sind und ihnen, wenn immer mehr jüdische Stimmen und Organisationen ihre Accounts schließen, irgendwann niemand mehr auch die andere, unsere Realität und Lebenswelt aufzeigt. Daher ist es so wichtig, dass wir weiterhin auch auf dieser schwierigen Plattform mit Fakten, Richtigstellung von Fake News bis hin zu emotionalen Einblicken in die jüdische Geschichte und Gegenwart dagegenhalten.

»Wenn wir unsichtbar und stumm werden, wird es für die anderen noch leichter, Augen und Ohren zu verschließen«, sagt Sarah Cohen-Fantl.

Ja, Plattformen wie X sind voll von Hass, sie werden nicht ordentlich von ihren Betreibern moderiert, und es zehrt an den eigenen Nerven und Kräften. Ich muss mir deshalb auch immer wieder Pausen nehmen, lese oft keine Posts von anderen Usern und filtere die Kommentare oder ignoriere sie komplett.

Doch ganz aufhören und so die Möglichkeit verlieren, Menschen zu erreichen, die noch offen sind, Interesse an jüdischem Leben oder Fragen zum Nahostkonflikt haben? Die sich in der jetzigen politischen und gesellschaftlichen Situation sehr allein, durch unsere Präsenz aber gesehen und verstanden fühlen? Sollen wir den anderen an dieser Stelle tatsächlich das Feld überlassen? Ganz sicher nicht.

Am Ende müssen wir uns eingestehen, dass diese Plattform nicht einfach wieder verschwinden wird. Oder durch eine andere – vermeintlich bessere – ersetzt wird. Es muss vielmehr Druck ausgeübt werden, damit sich etwas an den Regelungen ändert, zum Beispiel, was die Anmeldevorschriften und den Nachweis der eigenen Identität angeht. Auch die Strafverfolgung muss schneller erfolgen und härtere Sanktionen nach sich ziehen. Nicht wir sollten diejenigen sein, die sich gezwungen sehen zu gehen, sondern den Hetzern sollte die Möglichkeit genommen werden, ihren Hass auszuleben.

Es darf nicht sein, dass sich immer mehr jüdische Organisationen von X verabschieden. Zum einen, weil ihre Posts andere informieren, uns ermahnen und berühren. Aber was vielleicht noch wichtiger ist: Sie spornen mich immer wieder an, mit meiner Arbeit weiterzumachen. Ich fühle mich nicht allein. Und letztendlich werden unsere Tweets auch Usern in den Newsfeed gespült, die sonst keine Berührungspunkte mit jüdischem Leben haben.

Auf der anderen Seite sind die antisemitischen Kommentare am Ende Zeugnis dafür, wie schlecht es derzeit um unsere Gesellschaft bestellt ist. Wenn wir unsichtbar und stumm auf diesen Plattformen werden, wird es für die Mehrheitsgesellschaft noch leichter, Augen und Ohren zu verschließen, um dann irgendwann sagen zu können: »Es gibt doch gar keinen Antisemitismus mehr« oder »Wir haben davon nichts gewusst«.
Was oft in Vergessenheit gerät, ist die Frage, welchen Beitrag wir auf Social Media leisten: Erst vor wenigen Tagen erhielt ich Nachricht von einer jungen Frau, die früher anti-israelisch eingestellt war und durch meine Plattform verstanden hat, wie kompliziert die Situation tatsächlich ist. Mittlerweile klärt sie mithilfe meiner Veröffentlichungen ihren Freundeskreis mit Fakten auf – und dieser hat ihr nichts entgegenzusetzen.

Auch viele Schülerinnen, Schüler und Studierende, die sich gerade sehr einsam fühlen, schreiben mir, wie dankbar sie sind, zu sehen, dass sie nicht allein sind. Ich war selten so gerührt und auch stolz auf das, was ich tue. Und genau das ist der Grund, warum ich auf X bleibe. Nicht für mich, sondern für alle, denen meine Stimme dort etwas bedeutet.

Mein Großvater, der Auschwitz und vieles mehr überlebt hat, schwieg nach seiner Befreiung vier Jahrzehnte lang. Er hoffte, dass, sollten die letzten Nazis nicht mehr am Leben sein, auch all das Böse von dieser Welt verschwinden würde. Doch er musste feststellen, dass er sich getäuscht hatte. Nazis und Neonazis verbreiten weiterhin ihre judenhassenden Ideologien. Als mein Großvater das erkannt hatte, fing er an, laut zu werden. Und genau aus diesem Grund werde auch ich niemals schweigen – ganz egal, auf welcher Plattform.

Die Autorin ist ist Journalistin und lebt in Israel.

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