Herr Chaimowicz, das Video von der Verhaftung und Tötung des Afroamerikaners George Floyd durch US-Polizisten in Minneapolis hat weltweit für Fassungslosigkeit und Entsetzen gesorgt. Mit welchen Gefühlen blicken Sie auf den Fall?
Das alles macht mich sehr traurig. Ich bin mit einem ganz anderen Bild von den USA aufgewachsen. In meiner Kindheit und Jugend, in den 90ern und frühen 2000ern, verbrachten wir jedes Jahr mehrere Wochen bei Freunden in Florida. Ich hatte noch keine Worte dafür, aber meine Eltern kamen mir dort und in Israel auf tiefgehende Art freier vor als in München, wo wir wohnten. Heute schicken wir uns in unserem Familien-WhatsApp-Chat Videos, in denen weinende, verzweifelte Menschen auf den Straßen Amerikas zu sehen sind, brennende Autos, Tränengaswolken.
Sind Sie von dem weltweiten Aufschrei und der großen Solidarität überrascht?
In dem Ausmaß schon. Es gab in den vergangenen Jahren ja eine Reihe von Polizeimorden an schwarzen Menschen, und ich weiß von mir selbst, dass die Reaktionen darauf irgendwann fast schon routiniert ausfallen. Diesmal ist es anders, was wahrscheinlich daran liegt, dass es dieses ungeheuerliche Video gibt: Da wird ein Mann vor den Augen der Weltöffentlichkeit fast neun Minuten lang von einem Polizisten zu Tode gefoltert. Was einen hoffnungsvoll stimmen kann, ist, dass die Wut, die Trauer und die Solidarität sich nicht nur auf die afroamerikanischen Communitys der USA beschränken. Wir sehen Menschen aller Hautfarben protestieren, weltweit, sogar in Deutschland sind Tausende auf die Straße gegangen.
Warum ist es wichtig, dass auch wir Juden gegen die Diskriminierung von Schwarzen aufstehen?
Da Juden in der Geschichte immer wieder Opfer von Vorurteilen geworden sind, wissen wir aus eigener Erfahrung oder aus unseren Familiengeschichten nur zu gut, wie wichtig die Unterstützung anderer Gemeinschaften in Zeiten der Not sein kann. Außerdem wissen wir, dass Rassismus und Antisemitismus Hand in Hand gehen. Ich erinnere mich noch gut an die Sprechchöre beim Rassisten-Aufmarsch in Charlottesville von 2017: Da richtete sich die Masse gegen Schwarze, um im nächsten Atemzug »Jews will not replace us« zu skandieren.
Welche Erfahrungen mit Rassismus haben Sie in Deutschland gemacht?
Ich hatte das Glück, sehr wenige persönliche Erfahrungen mit Rassismus zu machen. Ich bin in München aufgewachsen, in privilegierten Verhältnissen. Auf einem humanistischen Gymnasium in einem Stadtpark von München, am Tennisplatz oder auf Reggae-Festivals am Chiemsee wird man mit Rassismus wahrscheinlich weniger konfrontiert als in den sozialen Brennpunkten des Landes. Ich habe aber in den vergangenen Jahren viel darüber gelesen und gehört, wie anders das Leben für schwarze Menschen in Deutschland sein kann, und empfehle zum Beispiel die Bücher von Alice Hasters und Tupoka Ogette, in denen es um Alltagsrassismus in Deutschland geht.
Sie leiten das »Zeit«-Magazin Mann und reisen für Interviews regelmäßig in die USA. Bewegen Sie sich dort anders als in Europa?
Ich habe mir früher nie Gedanken darüber gemacht, ob ich als nichtweißer Mensch nachts, auf dem Weg zurück von einem Besuch im Comedy Cellar in Manhattan zum Beispiel, potenziell Schwierigkeiten mit der Polizei bekommen könnte. Bei meinem letzten Besuch in Los Angeles kam mir spätabends erstmals dieser Gedanke: Ich spazierte die kurze Strecke vom Restaurant zum Hotel zurück auf dem Sunset Boulevard, an einer Ampel neben mir hielt eine Polizeistreife. Ich dachte an die amerikanische One-Drop-Rule, das Prinzip, das besagt, dass ein Tropfen schwarzes Blut in der Familie dich zu einem Schwarzen macht. Die Polizisten würden mich also als Schwarzen sehen. Während ich mich nachts in der Nähe der Polizei in Deutschland eher sicherer fühle, merkte ich in dem Moment, dass es mir in den USA anders ging.
Sie stammen aus München. Ist es ein Unterschied für Sie, ob Sie sich im eher homogenen München oder im multikulturellen Berlin aufhalten?
Ich erinnere mich, dass ich mal mit einer Kollegin und Freundin, die in China geboren ist und auch in München wohnte, in einem Schwabinger Restaurant saß. Sie sagte: Ist es nicht komisch, dass wir beide immer, wenn wir essen gehen, die einzigen nichtweißen Menschen im Lokal sind? Erst, als sie das sagte, fiel mir auf, wie recht sie hatte. Da ich in München geboren und aufgewachsen bin, kannte ich es nicht anders. In meinem Abiturjahrgang gab es einen einzigen anderen Menschen mit Migrationshintergrund, wenn ich einmal von dem einen Schüler absehe, dessen Vater aus Österreich stammte. Als ich vor vier Jahren nach Berlin zog, war das insofern schon eine starke Veränderung. Es gefällt mir, Menschen um mich herum zu haben, die unterschiedlich aussehen. Aber wie verschieden Menschen sein können, zeigt sich nicht nur in Hautfarbe und Herkunft. Deshalb kam mir München auch nie ganz so homogen vor, wie es immer heißt.
Sie haben kürzlich für Ihr Magazin Lenny Kravitz getroffen, dessen Vater wie Ihr Vater aus einer osteuropäisch-jüdischen Familie kommt und dessen Mutter – wie Ihre Mutter – schwarz ist. Haben Sie sich mit Kravitz auch über den Rassismus in den USA unterhalten können? Und über die Fragen, die man hat, wenn man mehrere kulturelle Identitäten besitzt?
Ich wollte ihn tatsächlich vor allem wegen unserer biografischen Ähnlichkeiten treffen: Mich hat sein Blick auf die osteuropäisch-jüdische und karibische Herkunft interessiert. Mir fiel auf, dass ich mich nie zuvor mit jemandem unterhalten hatte, der ähnliche Wurzeln hat wie ich. Die Unterschiede zwischen uns waren dann aber doch größer, als ich erwartet hatte: Als schwarzes Kind in New York in den 60er- und 70er-Jahren hatte er mit Rassismus zu kämpfen, er erzählte, dass seine Eltern auf der Straße angefeindet wurden und einmal in einem Hotel abgewiesen wurden, weil der Rezeptionist dachte, der weiße Herr wolle mit einer schwarzen Prostituierten einchecken. Kravitz sagte, dass er zwar mit vielen jüdischen Traditionen aufgewachsen ist und auch heute noch gern zu Schabbatabenden bei Freunden geht, sich aber vornehmlich als schwarzen Mann sieht. Meine jüdische Identität ist, glaube ich, etwas ausgeprägter als seine.
Für Juden in den USA gibt es zurzeit eine Debatte, ob man bei den Protesten gegen die rassistische Polizeigewalt mitdemonstrieren soll, weil bei mehreren Kundgebungen die israelfeindliche BDS-Bewegung lautstark mitdemonstriert. Wie bewerten Sie das?
Das ist leider ein großes Problem: Die BDS-Bewegung stellt den Zionismus in eine Reihe mit weißem Rassismus, sie macht aus der Gründung des Staates Israel einen kolonialistischen Akt, und die Gründe, warum die Existenz Israels so wichtig war und bleibt, werden einfach ausgeblendet. Das ist absurd, und ich kann jeden verstehen, der sich unwohl fühlt, auf einer Demo neben einem BDS-Sympathisanten zu stehen. Ich glaube, ich würde wegen diesen Leuten aber einer Demo gegen rassistische Polizeigewalt nicht fernbleiben.
Das Interview führte Philipp Peyman Engel.