Vor großen Gruppen zu sprechen, macht mir gar nichts aus», sagt Jörg Benario und nimmt einen großen Zug an seiner E-Zigarette. Wer schüchtern ist, könne in seinem Business nicht erfolgreich sein. Man muss nur ein paar Worte mit ihm wechseln, schon merkt man: Dieser Mann hat Selbstbewusstsein, und seinen Beruf übt er mit Leidenschaft aus.
Der 49-Jährige ist Stadtführer. Seit nunmehr 32 Jahren führt der gebürtige Ostberliner mit den kurzgeschorenen Haaren interessierte Reisegruppen durch die Hauptstadt. Vorgefertigte Touren gebe es bei ihm nicht, sagt Benario. Jede Gruppe ist anders, jede Gruppe hat spezielle Interessen, auf die er eingehen möchte.
Bestimmte Sehenswürdigkeiten dürfen aber bei keiner seiner Stadtführungen fehlen: das Brandenburger Tor, die Gedenkstätte für die ermordeten Juden Europas, die Neue Synagoge in der Oranienburger Straße. «Der Schwerpunkt meiner Touren liegt auf dem jüdischen Berlin mit all seinen Facetten. Das ist naheliegend», sagt Benario, «ich bin schließlich jüdisch.»
idee Und weil das so ist, hat Simona Faulhaber Benario kontaktiert. «Ich wollte unbedingt jemanden, der sich gut mit dem Judentum und den jüdischen Gedenkorten in Berlin auskennt», sagt die Mitarbeiterin der Flüchtlingshilfe Wolfsburg-Niedersachsen. Zusammen mit Aktiven aus dem lokalen Ableger der Deutsch-Arabischen Gesellschaft hatte sie eine Idee: gemeinsam mit Flüchtlingen aus Wolfsburg nach Berlin zu fahren, um sich hier Gedenkstätten anzuschauen.
«In unserer Arbeit in den Flüchtlingsunterkünften sind wir täglich mit Rassismus konfrontiert. Eine ethnische Gruppe diskriminiert eine andere. Auch antisemitische Ressentiments – vor allem im Kontext des Nahostkonflikts und mit Bezug auf Israel –sind unter den Flüchtlingen weit verbreitet», berichtet Faulhaber.
Auch mit Anwerbungsversuchen durch Anhänger der islamistischen Terrororganisation «Islamischer Staat» (IS) gebe es in Wolfsburger Flüchtlingseinrichtungen immer wieder Probleme. Gegen all das müsse man unbedingt etwas tun. Der Besuch von Erinnerungsorten der Schoa, die als stumme Mahnmale darüber Auskunft geben, wohin Diskriminierung in letzter Konsequenz führen kann, sei ein wichtiger Schritt zur Demokratieerziehung, ist Faulhaber überzeugt. Also reiste sie kurzentschlossen mit rund 50 Flüchtlingen aus Syrien, Somalia und Ägypten per Bus von Wolfsburg nach Berlin, um zusammen mit Jörg Benario das Holocaust-Mahnmal und andere Gedenkorte zu besuchen.
zweifel Benario fand die Initiative von Beginn an spannend. «Als ich die erste E-Mail von Frau Faulhaber erhielt, hatte ich sofort Lust auf diese Tour. Ich dachte mir: Eine Stadtführung nur mit Flüchtlingen, das ist mal etwas Besonderes», sagt Benario. Er habe ja schon CSU-Lokalpolitiker aus bayerischen Kleinstädten und iranische Eisenbahner aus Teheran durch Berlin geführt, aber eine Gruppe von Flüchtlingen, vorwiegend aus dem arabischen Raum – das sei auch für ihn Neuland.
Dass er anfangs durchaus Zweifel hatte, will er nicht verschweigen. «Werden sie mir zuhören, wenn ich sage, dass ich Jude bin?» Als Benario hörte, dass die Flüchtlinge alle freiwillig mitfahren und eine Teilnahmegebühr von fünf Euro zahlen würden, habe er zu sich selbst gesagt: «Komm, die Leute haben wirklich Interesse. Mach das doch einfach mal.»
An einem regnerischen Vormittag im Berliner Sommer empfängt der Stadtführer die Wolfsburger Reisegruppe vor dem Bundestag. Sie ist bunt gemischt: Familien mit Kindern, Jugendliche, Ehepaare. Mit Schirmen und Regencapes ausgerüstet, geht es vom Sitz der politischen Macht zum ersten Stopp: dem Denkmal für die während des Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma. Trotz des schlechten Wetters ist die Stimmung gut.
israelhass «Ich finde es richtig und wichtig, dass jede während des Holocaust von den Nazis und ihren Helfern verfolgte Gruppe ihr eigenes Denkmal bekommt», erläutert Benario. Er würde sich aber zusätzlich ein zentrales Genozid-Mahnmal wünschen, das daran erinnert, was Menschen anderen Menschen auch heute noch antun. Nach einer arabischen Übersetzung von Benarios Ausführungen nicken viele der Teilnehmer. Die Idee eines Genozid-Mahnmals finden sie gut.
Mohammed Husseini ist aus Wolfsburg mit nach Berlin gereist, um zu übersetzen. Der aus Syrien stammende Arzt lebt bereits seit 1977 in Deutschland und engagiert sich im niedersächsischen Ableger der Deutsch-Arabischen Gesellschaft ehrenamtlich in der Flüchtlingsarbeit. Gemeinsam mit Simona Faulhaber hatte er die Idee zur Stadtführung. «Ich finde, der Besuch von Gedenkstätten ist ein erster Schritt zur Integration von Flüchtlingen. Wenn sie hier leben wollen, müssen sie verstehen, dass das Judentum nicht nur eine Sache der Vergangenheit, sondern heute ein integraler Bestandteil Deutschlands ist», sagt Husseini.
Er kennt die Vorurteile, die viele seiner Landsleute gegenüber Juden haben. Er weiß, dass Israelhass zum kulturellen Code innerhalb der syrischen Gesellschaft gehört. «Wir dürfen diese Probleme nicht verschweigen, um sie angehen zu können», meint Husseini.
Cousine Die Stadtführung geht weiter. Nächster Halt ist das Brandenburger Tor, dann geht es zum Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Benario geht ins Stelenfeld hinein, bleibt stehen, dreht sich um und beginnt zu erläutern. «Egal, was man von der Gestaltung des Denkmals hält, das Stelenfeld ist wie eine Wunde mitten im Herzen Berlins und regt jeden Besucher zum Nachdenken an», sagt er. Der Stadtführer erzählt von dem Schicksal seiner Großcousine Olga Benario, die als Jüdin und Kommunistin im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück interniert war und im April 1942 in Bernburg südlich von Berlin ermordet wurde.
Als Benario von seiner Familie erzählt, hört die ganze Gruppe aufmerksam zu – für Benario ein überaus positiver Moment. Er erinnert sich, dass er auch schon Touren wegen antisemitischer Kommentare an dieser Stelle abgebrochen hat. «Ich hatte von meiner Großcousine erzählt, es gab einen blöden Spruch, und ich bin kommentarlos weggegangen», erinnert er sich. Er sei da ganz rigoros.
Bei dieser Tour muss der Stadtführer nicht weggehen. Zusammen mit der Wolfsburger Gruppe fährt er vom Holocaust-Mahnmal zur Gedenk- und Bildungsstätte Topographie des Terrors. Im Bus gibt es Gelegenheit, persönlich mit den Tourteilnehmern ins Gespräch zu kommen. «In der Schule haben wir schon eine Menge über Berlin und die Geschichte Deutschlands gelernt. Wir wollten uns selbst einmal ein Bild vor Ort machen», sagt die 17-jährige Fatima Al Ahmad. Zusammen mit ihrer 13 Jahre alten Schwester Khaoula nimmt sie an der Gedenkstätten-Tour teil. Fatima trägt ein Kopftuch, Khaoula nicht. Die Geschwister aus Aleppo, die mit ihren Eltern vor einem Jahr nach Deutschland gekommen sind, freuen sich, einmal aus Wolfsburg herauszukommen. «Ich habe wirklich das Gefühl, hier heute etwas gelernt zu haben. Die Stadtführung macht einfach Spaß», sagt Khaoula in fast akzentfreiem Deutsch.
feedback Das findet auch Rami Zaihrhabi. Der 42-jährige Masterabsolvent für Krankenpflege ist mit seiner Frau vor ebenfalls einem Jahr aus Syrien nach Wolfsburg geflohen. Mit jüdischer Geschichte hat er sich schon in seiner Heimat beschäftigt. «Ich habe den Film Der Pianist gesehen – ein sehr trauriger Film, der in Warschau zur Zeit des Zweiten Weltkriegs spielt», sagt Zaihrahabi. Er freut sich, dass er und seine Frau die Möglichkeit haben, an der Stadtführung in Berlin teilzunehmen. «Die Juden sind in Deutschland genauso Bürger wie alle anderen. Das ist gut so. Ich wünschte, so wäre es auch in meiner Heimat. Doch in Syrien ist Krieg und die Situation sehr schlecht», erklärt Zaihrhabi.
Stadtführer Benario freut sich über das überraschend positive Feedback. Er könne es sich gut vorstellen, in Zukunft regelmäßig Touren mit Flüchtlingsgruppen zu machen, sagt er. «Ich bin da sehr offen. Jeder kann auf mich zukommen.»
Am Gendarmenmarkt steigt der Stadtführer aus dem Reisebus aus. Er hat gleich noch eine weitere Tour. Die Wolfsburger fahren noch weiter nach Neukölln, um in einem libanesischen Restaurant Falafel zu essen. Nach Berlin wollen sie auf jeden Fall noch einmal kommen. Es gebe schließlich noch viel mehr zu erkunden.