Der Tag des Sieges am 9. Mai war für die Kremlführung immer ein Heimspiel. Seit der Feiertag in der UdSSR 1965 unter Leonid Breschnew eingeführt wurde, war seine primäre Funktion die, mithilfe des Weltkriegsgedenkens die jeweilige Staatsführung zu legitimieren.
So sehr die Kriegsveteranen und die Opfer des Krieges einen Tag brauchen, an dem ihnen gedankt beziehungsweise ihrer gedacht wird, so sehr waren und sind sie stets doch nur das Mittel, nie der Zweck. Der 9. Mai eignet sich ja wirklich dafür: Wer auch immer die Staatsführung in Moskau kritisieren möchte, erweckt dann den Eindruck, die Niederlage der Nazis zu bedauern.
boykott Das wurde auch diesmal deutlich: Vertreter der Westalliierten fehlten in Moskau, um nicht die russische Aggression in der Ukraine zu legitimieren. Wladimir Putin zog prompt eine Parallele zwischen der heutigen Ukrainekrise und der Appeasementpolitik in den 30er-Jahren. Was den Regierungen in Washington, London und Paris möglich war, das Fehlen bei der Moskauer Siegesfeier mit ihrer pompösen Militärparade, bedeutete für Berlin jedoch ein Problem: Ein Boykott des Termins hätte nach revanchistischem Denken ausgesehen. Deutschland ist das letzte Land, das an einem 9. Mai Kritik am Kreml üben darf.
So gesehen hat man in Berlin eine elegante Lösung gewählt. Mit den Besuchen des Außenministers am 8. Mai in Wolgograd, dem ehemaligen Stalingrad, und der Kanzlerin am 10. Mai in Moskau – beide Visiten standen im Zeichen des Gedenkens an die Opfer des deutschen Vernichtungskrieges – gelang es Berlin, die Siegesfeier zu boykottieren, ohne dabei revisionistisch zu wirken.
ironie Damit einher geht allerdings eine Entwertung des Datums 9. Mai. Schon seit einem Jahr versucht etwa die ukrainische Führung, die Bedeutung dieses Tages zu schmälern, indem sie den 8. Mai als ebenbürtigen Tag des Gedenkens und der Versöhnung aufbaut – eine Entscheidung Kiews gegen Moskau. Eine ähnliche Lösung fand auch der weißrussische Präsident Alexander Lukaschenko: Er war am 8. Mai in Moskau, reiste aber ab, um am 9. Mai in Minsk eine eigene Parade abzuhalten.
Es ist eine Ironie der Geschichte, dass gerade wegen der russisch-ultrapatriotischen Aufladung durch die heutige Kremlführung die Relevanz des 9. Mai abnimmt und stattdessen der 8. Mai, ein in der Sowjetunion völlig unwichtiges Datum, plötzlich an Bedeutung gewinnt.
Der Autor ist Historiker in Freiburg.