Purim ist im Monat Adar. Da sagen unsere Rabbinen: »Wenn der Monat Adar einkehrt, steigern wir die Freude.« Steht so im Talmud. Aber mal ehrlich: Aktuell scheint sich bei aller Freude auch der Antisemitismus zu steigern, ob Adar oder nicht. Dazu Erdogan und Assad, Iran und Nordkorea, eine gelähmte Politik samt Ersatz-NPD im Bundestag – wie soll da bloß Freude aufkommen oder gar gesteigert werden? Und was soll das eigentlich sein: wahre Freude – und wie kann man sie erleben?
Darüber haben sich auch schon ganz andere Persönlichkeiten als die im Talmud den Kopf zerbrochen. »Die wahre Freude, die man in der Familie erfährt, ist nicht dem Zufall oder Glück überlassen«, hat Papst Franziskus im Sommer 2016 getwittert. Nun hat der Mann ja keine Familie, nebbich.
seneca Aber auch schon vor rund 2000 Jahren wussten die alten Römer, zumindest der Dichter und Philosoph Seneca: »Wahre Freude ist eine ernste Sache.« Nichts fällt einem also einfach so in den Schoß. Das ist anscheinend auch dem Dalai Lama klar. Vom geistlichen Oberhaupt der Tibeter stammt der Hinweis: »Freude ist eine Fähigkeit, in der wir uns üben sollten.« Aha.
Genau das tun wir – mit Purim, und das seit nunmehr zweieinhalbtausend Jahren. Was so lange währt, muss gut sein. Da lohnt ein genauer Blick allemal.
Gefeiert wird bekanntlich die Rettung vor einem drohenden Genozid. Aus existenzieller Gefahr wurde Rettung. Die Freude darüber geht weit über bloße Erleichterung hinaus. Erleichterung ist eher eine vorübergehende Emotion; Freude dagegen hält länger an. Im vorliegenden Fall sind es Jahrtausende. Und diese beeindruckende Nachhaltigkeit wirkt sich immer auf die Gegenwart aus und strahlt darüber hinaus in die Zukunft.
rettung Die Tradition macht’s möglich. Das ritualisierte Erzählen der Rettung wird zum Selbstläufer: Wir haben die drohende Vernichtung überlebt, also können wir darüber auch berichten. Wer aus Gefahr gerettet wurde, hat oft das Bedürfnis, davon zu erzählen, um sich zu erleichtern. Durch das Erzählen wird die vergangene Gefahr aktiv angenommen und dankbar verarbeitet.
Das dadurch entstehende Narrativ vermag eine sonst drohende Traumatisierung abzufedern. Statt Trauma also Erleichterung; statt Stillstand Perspektive, statt Angst Dankbarkeit. Wenn dabei auch noch Freude aufkommt, erfährt die Erzählung über die Rettung eine positive Wendung, die sich nachhaltig auswirkt. Das ist mehr als ein Happy End – es geht damit erst richtig los. Purim geht immer.
Schon das Datum des Ereignisses verheißt Freude statt Furcht. Das ist bereits im Namen des Festes angelegt: Das Los (Pur) des Feindes sollte den Termin für das Ende der Juden bestimmen, stattdessen wird an diesem Datum nun ausgiebig gefeiert. Mit dem Begriff Purim verbinden wir nicht das Datum unserer Vernichtung, sondern ein Fest der Freude. Aus der größten Gefahr wird die größte Ausgelassenheit.
spiel und spass Durch das rituelle Lesen der Esther-Rolle wird die Gefahr noch einmal durchlebt und in Freude verwandelt. Die Geister der Vergangenheit, die uns alle sonst heimsuchen würden, werden ausgetrieben durch Musik, Tanz, Verkleidung, Theater, Spiel und Spaß für Jung und Alt. Geschenke für die Armen und Über-den-Durst-Trinken nicht zu vergessen. Das, bitte schön, ist jüdischer Exorzismus.
Purim ist also die jüdische Antwort auf eine der größten Fragen der Menschheit: Wie geht man mit einer traumatisierenden Vergangenheit um, ohne traumatisiert zu werden?
Wir blicken zurück und dürfen die Feinde nie vergessen – zugleich sollen ihre Namen ausgelöscht werden, damit wir von ihnen nicht heimgesucht werden und somit nach vorne blicken können. Deswegen ist der Höhepunkt einer jeden Lesung aus dem Buch Esther immer der Lärm, in dem der Name »Haman« untergeht. Purim ist die Kunst, an die Vergangenheit zu erinnern und zugleich Mut für die Zukunft zu schöpfen. Das mag gar in Übermut ausarten – ist aber allemal besser als leere Hoffnungslosigkeit.
humor Meine Großeltern seligen Andenkens berichteten stets auch mit Humor über ihre Rettung aus der Lebensgefahr, welche die drohende Vernichtung Mitte des 20. Jahrhunderts für jeden Juden in Europa bedeutete. »Die Gojim sagen: Als Letztes stirbt die Hoffnung«, kommentierte mein Großvater traurig. »Wir hatten überhaupt keine Hoffnung auf Rettung, aber wir hatten immer unseren hoffnungslosen Humor.«
Unsere Feinde lassen sich nur mit viel Humor ertragen. Ob Haman oder seine Wiedergänger, heimische oder andere Antisemiten, Erdogan, Assad oder die Mullahs im Iran: Sie alle haben keinen Humor. Damit stehen sie in einer Reihe mit allen unseren Feinden seit biblischen Zeiten. Ihre Humorlosigkeit ist zusammen mit ihren Machtfantasien und ihrer Brutalität geradezu ein Markenzeichen. Humor ist eine Waffe, die Despoten schon immer fürchteten. Das wiederum befähigt uns, sich über sie lustig machen zu können – ja, zu müssen. Da kommt Freude auf!
Der Autor ist Rabbiner der Budge-Stiftung in Frankfurt/Main.