Langenau

Psychoterror gegen den Pfarrer

Sonntag, 15. Oktober 2023, zehn Uhr morgens in Langenau. Eine schwäbische Kleinstadt, fast 16.000 Einwohner, von Ulm aus eine halbe Stunde Fahrt. In der Martinskirche beginnt der Gottesdienst. Pfarrer Ralf Sedlak, Mitte 40, steht auf der hölzernen Kanzel. Unten sitzen mehrere Hundert Menschen. In wenigen Minuten wird eine Kampagne gegen den evangelischen Geistlichen starten, die weit über die Landesgrenzen Baden-Württembergs hinaus Schlagzeilen machen wird.

Doch das weiß Sedlak, ein ruhiger und entschieden auftretender Mann, noch nicht, als er sich anschickt, in seiner Predigt auf den Terror des 7. Oktober Bezug zu nehmen – wie im sogenannten Kanzelwort für diesen Sonntag von Ernst-Wilhelm Gohl, dem Landesbischof von Württemberg.

»Liebe Schwestern und Brüder, am frühen Sabbatmorgen der letzten Woche haben Terroristen der Hamas Israel überfallen. (…) Als Christinnen und Christen, als ganze Evangelische Landeskirche, stehen wir an der Seite Israels und trauern mit den Menschen. (…) Wer Juden hasst, wendet sich gegen Gott selbst. Antisemitismus zeigt sich etwa in Demonstrationen, die diesen Terrorakt feiern, oder in Äußerungen, die Verständnis dafür äußern. Die Hamas ist der Täter. Israel ist Opfer. Nichts rechtfertigt dieses Morden«, heißt es in Gohls Text.

Gegenüber der Kanzel, auf der Empore, steht ein Aktivist Mitte 70

»Die Nachrichten aus Israel von heimtückisch ermordeten Menschen, darunter viele Säuglinge, Kleinkinder und Senioren, von vergewaltigten und zur Schau gestellten Frauen, von entführten Familien ... «, beginnt Pfarrer Sedlak in Langenau mit seiner Predigt.

Worte zum 7. Oktober, die einer nicht ertragen will: Gegenüber der Kanzel, auf der Empore, steht ein Aktivist Mitte 70. Den Mann aus Langenau, dessen Name hier nicht genannt werden kann, verdeckt eine Säule. Der Aktivist, erinnert sich Ralf Sedlak, begann, ihn niederzubrüllen, bevor er den ersten Satz vollenden konnte. Fünf Minuten lang. »Er hat behauptet, die ›Nachrichten aus Israel‹ vom Terroranschlag der Hamas seien ›falsch‹ und ›Fake News‹. Der Staat Israel verübe ›Verbrechen gegen die Menschheit‹ und ›wir‹ würden dazu klatschen.«

Der Pfarrer versucht zu widersprechen. Im Gespräch mit der Jüdischen Allgemeinen erinnert er sich: »Danach saß ich ein bisschen perplex in meinem Büro und ärgerte mich über mich selbst, weil ich mich auf eine Diskussion eingelassen hatte. Ich hätte ja einfach die Polizei rufen und von unserem Hausrecht Gebrauch machen können. Und während ich am Rechner saß und überlegte, ploppte auf einmal die E-Mail einer weiteren Aktivistin auf mit der Frage, ob denn eine Hilfsaktion für Gaza geplant sei und wann das thematisiert würde. Ich glaube, von diesem Sonntag an war es eine Aktion, die auf mich persönlich zielt.«

Doch Sedlak sagt auch: »Es hätte jeden anderen treffen können, der an diesem 15. Oktober hier gepredigt hätte. Denn dieses Kanzelwort des Landesbischofs, das zur Verlesung vorgesehen war, verlasen nahezu alle Pfarrerinnen und Pfarrer in Württemberg mit dem Inhalt, den der Aktivist mutmaßlich kannte und weswegen er auch in die Kirche gekommen sein dürfte, um zu widersprechen.«

Mehr als 16 Monate später. Sonntag, 23. Februar 2025, zehn Uhr in Langenau. Vor der Martinskirche steht ein Polizeiauto. Während des Gottesdienstes unterhalten sich zwei ältere Frauen. Sie fragen sich, ob der Aktivist wohl wieder vor der Kirche auftauchen wird – wie fast jeden Sonntag seit Frühjahr 2024. Die Frauen fühlen sich von ihm gestört. Der Mann könne doch mal eine Pause einlegen, zwischen Israel und der Hamas herrsche Waffenstillstand, sagt die eine. »Er nervt«, sagt die andere.

Als die Journalistin ihm eine Frage stellt, sagt der Aktivist: »Ich rede nicht mit Zionisten!«

In Langenau gibt es keine Pause. Nach dem Gottesdienst bittet der Pfarrer die Beter, die Seitenausgänge zu nehmen. Vor dem Haupteingang stehen der Aktivist und ein jüngerer Mitstreiter. Auf einem ihrer Plakate sind Israelis zu sehen, die mit einem Motorroller über ein Feld von Totenköpfen fahren. Dazu die Worte: »Explore Gaza«. Auf dem zweiten Plakat in den Farben der palästinensischen Flagge steht: »Kolonialer Siedler Schurkenstaat«. Auf der Rückseite des Plakats: ein Mann mit einer großen israelischen Flagge und blutverschmierten Händen. Als die Journalistin der Jüdischen Allgemeinen mit dem Aktivisten ins Gespräch kommen will, ihm eine Frage stellt und sich vorstellt, ruft dieser: »Ich rede nicht mit Zionisten!«

Zu weiteren Zwischenfällen kommt es nicht. Im Sommer sei das anders gewesen, sagt Sedlak: »Wir hatten die Situation, dass die Demonstranten gepöbelt haben, dass sie ein Megafon eingesetzt haben. Den Menschen wurde vorgeworfen, sie würden sich am Völkermord in Palästina beteiligen. Manche hat es so schockiert, dass sie sagen, sie kommen nur noch ungern hierher.«

Die Liste der Vorfälle, die Sedlak – Vater von sechs Kindern – aufzählt, ist lang. »Kinder unserer Kinderkirche haben im Kirchhof gefeiert. Und dann hat der Aktivist sich mit einem Plakat in die Gruppe reingestellt, und dann haben die sich verlagert, weil sie nicht wussten, wie sie sich dagegen wehren sollten.« Im Frühsommer habe der Aktivist auch Werkzeug mitgebracht. »Das muss wohl ein Seitenschneider oder eine Zange gewesen sein. Das hat er dann ausgepackt und gerufen: ›Wo ist der Pfarrer Bäpperle mit seinem Schnäpperle?‹ Also auf Hochdeutsch: Er will mich kastrieren oder beschneiden.«

Wegen der vielen Aufkleber, die in seinem Wohnumfeld angebracht wurden, bezeichne der Aktivist ihn als Bäpperle – Schwäbisch für Aufkleber. »Besonders perfide finde ich den hier mit dem Herzen und dann mit dem roten Dreieck mittendrin«, sagt der Pfarrer. In der radikalen Palästina-Szene wird das rote Dreieck verwendet, um unliebsame Gegner zu markieren. Ein weiterer Sticker: »Zionist, Faschist«.

Sechs Monate später die »Pro-Palästina«-Demo: Am 7. Dezember 2024 zogen mehrere Dutzend Menschen durch Langenau. »Aus diesem Demonstrationszug wurde unter anderem gerufen: ›From the river to the sea, Palestine will be free‹ und ›Blut, Blut, Blut an den Händen‹«, erinnert sich Ralf Sedlak. Und dann wurden meine Kollegin und ich namentlich ausgerufen.« Ursprünglich sei geplant gewesen, dass die Demonstranten direkt vor das Pfarrhaus ziehen. »Die Versammlungsbehörde hat es abgelehnt. Aber nicht mit Verweis auf unser Wohnhaus, sondern weil zufällig der Adventsmarkt direkt vor unserem Haus und damit die Straße schon belegt war.«

»Menschen haben mit einer Schreckschusswaffe auf unser Haus geschossen.«

Ralf Sedlak

Seitdem ist die Situation weiter eskaliert. An die Martinskirche wurde »Juden vergasen« und »Boycott Israel« geschmiert. Wenige Wochen später »Deutsche vergasen«. Am 22. Dezember, berichtet Sedlak, »wurde mit irgendeinem Gerät oder einer Waffe auf die Fenster der Leonhardskirche geschossen. Die Scheiben wurden beschädigt. Wir hatten auch schon Menschen, die mit einer Schreckschusswaffe auf unser Haus geschossen haben.«

Der Pfarrer hat zahlreiche Anzeigen erstattet, unter anderem wegen Volksverhetzung, Sachbeschädigung, Beleidigung und Bedrohung. Die Polizei Ulm teilte dazu mit, die Ermittlungen seien abgeschlossen, die Ergebnisse der Staatsanwaltschaft Ulm vorgelegt worden. Bei den regelmäßigen Mahnwachen und Versammlungen sonntags vor der Martinskirche seien teilweise Verstöße gegen das Versammlungsgesetz festgestellt worden. Der Aufkleber an der Stadtbücherei Langenau, »der unter anderem ein rotes Dreieck beinhaltet«, sei erst kürzlich zur Anzeige gebracht worden: »In diesem Falle laufen die Ermittlungen noch.« Die Ulmer Staatsanwaltschaft hat nach eigenen Angaben bislang kein Ermittlungsverfahren wegen des roten Dreiecks eingeleitet, ermittelt jedoch mehrfach wegen Verstößen gegen das Versammlungsgesetz vor der Kirche.

Ferner hießt es von der Behörde: »Hinsichtlich der ›Schmierereien‹ in Langenau ist bei uns ein Ermittlungsverfahren gegen unbekannt anhängig; ein Täter konnte bisher nicht ermittelt werden. Die Ermittlungen dauern aber noch an.« Die Bürgermeisterin von Langenau, Daria Henning (CDU), sagte der Jüdischen Allgemeinen dazu: »Solche Inhalte sind erschütternd, und wir dulden sie nicht, wir verurteilen diese Schmierereien. Aktuell wissen wir nicht, ob es Zusammenhänge zu den Aktionen vor der Martinskirche gibt und wer die Täter sind.«

Pfarrer Sedlak würde sich auch andere Reaktionen wünschen. »›Wir stehen gegen Hass und Hetze in Langenau.‹ Das sind Worthülsen, die kann ich mittlerweile nicht mehr hören. Wir haben eine Zuspitzung auf Antisemitismus oder eine Form von Israelfeindschaft, die Züge von Antisemitismus trägt. Und dann spricht man allgemein von ›Hass und Hetze‹ und insinuiert in manchen Fällen sogar, letztlich sei die Kirchengemeinde schuld. Hätten wir geschwiegen, wäre alles nicht passiert.«

Die Bürgermeisterin glaubt, die Herausforderung angenommen zu haben

Die Bürgermeisterin hingegen glaubt, die Herausforderung angenommen zu haben: »Aus einem Gespräch Ende Januar mit vielen Beteiligten, mit Kirchen, Polizei und dem Antisemitismusbeauftragten von Baden-Württemberg, sind wir gestärkt hervorgegangen. Wir haben auch viel gesprochen über Extremismus. Und das ist ein Thema, das ich als Bürgermeisterin in unserer Stadt gerne weiterhin platzieren möchte: Schaut mal, da passiert was, nicht nur hier bei uns in Langenau, sondern in alle Richtungen. Und wir müssen uns davor schützen, weil es auch ein Angriff auf die Demokratie ist.«

»Platziert« ist das Thema in Langenau seit dem 15. Oktober 2023. Gegen die Aktivisten vor ihrer Haustür kann die evangelische Gemeinde nicht selbst vorgehen: Wer die Martinskirche verlässt, steht auf öffentlichem Grund. Immer wieder wird angeregt, die Stadt solle dafür sorgen, dass niemand im direkten Umkreis der Kirche demonstrieren darf. Die Bürgermeisterin kündigte im Gespräch mit der Jüdischen Allgemeinen an, »in den nächsten Wochen« werde »etwas Konkretes« passieren, »im Rahmen einer Allgemeinverfügung oder eines Aufenthaltsverbotes. Wir sind im Austausch mit der Polizei, der wir eine gewisse Handlungssicherheit geben. Die nächsten Schritte müssen sinnhaft und Erfolg versprechend sein«.

Zu den Plakaten vor der Kirche sagt Henning: »Es ist Angelegenheit der Staatsanwaltschaft. Da gibt es unterschiedliche Rechtsprechungen, was volksverhetzend ist und was nicht. Es ist ein sehr sensibles Thema mit Antisemitismus und das kann ich so nicht beurteilen, leider.« Falls keine Straftatbestände oder Verurteilungen vorlägen, seien das »erst einmal Kundgebungen, die der Meinungsfreiheit unterliegen, auch wenn es verstörende Bilder gibt und unschöne Worte gerufen werden. Das gehört zu unserer Demokratie eben auch dazu«. Und Nachstellungen oder Aufkleber an Privatgebäuden, »beispielsweise des Pfarrers«, seien »in erster Linie zwischen den zwei Parteien zu bearbeiten, eine privatrechtliche Angelegenheit. Da sind wir als Kommune außen vor«.

Rund 100 Pfarrer, Kirchengemeinderäte, Gemeindeglieder, Dekane, die Ulmer Prälatin und der Landesbischof haben sich mit Ralf Sedlak solidarisiert.Innenminister Thomas Strobl (CDU) sagte den Rückhalt der Landesregierung zu. Der Pfarrer betont, er bekomme viel Zuspruch aus Langenau. »Doch viele Menschen wollen das hier vor Ort nicht mit Gesicht und Namen tun.«

Er habe aber auch »ein diffuses Umfeld von Menschen, die nicht wohlwollend sind. Vor Kurzem hielt auf der Straße ein Auto an. Ich kannte den Mann, der drinsaß, nicht. Der wartete, bis ich auf der Höhe seines Fahrzeugs war. Dann hat er vor mir auf die Straße ausgespuckt.« Oder: »17 Uhr bei Tageslicht: Ein erwachsener Mann stellt sich vor unser Hoftor und uriniert in den Garten.« Bisher sei er noch nie direkt körperlich bedroht worden, sagt Sedlak, »aber dieses Unsicherheitsgefühl ist da. Man schaut sich mehr um. Und klar, man vermeidet bestimmte Wege.«

Es gebe viele Tage, an denen er Langenau liebe: »Diese kleine Stadt mit den vielen schönen Möglichkeiten. Die tolle Gemeinde und was wir hier miteinander machen. Und dann liegt wieder ein Bescheid der Staatsanwaltschaft im Briefkasten. Wieder eine Verfahrenseinstellung wegen Mangel an Beweisen.« Doch der Pfarrer will nicht aufgeben. Über den Gottesdienst vom 15. Oktober 2023 sagt er: »Ich würde das heute auch wieder tun und sagen, wer den Anschlag der Hamas irgendwie ins Lächerliche zieht oder leugnet, der kriegt von mir Widerspruch.«

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