Denunziation

Psst ..., schon gehört?

Gerüchte sind wie Federn: Fliegen sie erst einmal herum, ist es unmöglich, sie wieder einzusammeln. Foto: Fotolia, (M) Frank Albinus

Denunziation

Psst ..., schon gehört?

Shitstorm ist neu. Verleumdung und üble Nachrede nicht. Was unsere Weisen zu dem Phänomen sagen

von Rabbiner Andreas Nachama  02.05.2012 12:16 Uhr

Es geschah in Emden: Eine per Facebook organisierte Meute versammelte sich öffentlich, um einem vermeintlichen Kindermörder mit Lynchjustiz zu drohen. Später stellte sich heraus, dass der Beschuldigte nicht der Täter war. Einige Wochen danach veröffentlichte Hochsprung-Rekordhalterin Ariane Friedrich ebenfalls bei Facebook Namen und Wohnort eines Fans, der ihr angeblich eine anzügliche Mail inklusive Foto geschickt hatte. Tagtäglich werden im Netz mutmaßliche Verbrecher, »Ekel-Restaurants«, »Wucher-Zahnärzte« und vieles mehr angeprangert, oft mit erheblichen negativen Folgen für die Betroffenen, gleich ob sie schuldig sind oder nicht.

Das Phänomen der Denunziation ist nicht neu. Aber durch das Internet und dessen nahezu unkontrollierbare Verbreitung hat es eine andere Dimension bekommen. Es ist eben ein Unterschied, ob ich ein Flugblatt etwa am Eingang eines Theaters persönlich verteile, Poster an Bäumen und Litfaßsäulen in meiner Wohngegend anbringe – oder einen Shitstorm anonym per Internet in einem der »sozialen« Netzwerke auslöse.

Cybermobbing Für die herkömmlichen Medien gibt es Kontrollgremien, die sich für die Persönlichkeitsrechte von in der Presse verleumdeten Personen einsetzen. Gegebenenfalls wird durch Gegendarstellungen der Wahrheit ein gewisser Raum verschafft, wenngleich dieser oft längst nicht dem entspricht, den die vielleicht groß aufgemachte Falschmeldung hatte. Im Netz ist ein juristisches Vorgehen gegen Cybermobbing nur mit großem Aufwand und nur sehr, sehr eingeschränkt möglich.

Persönliche Diffamierung und üble Nachrede sind Themen, mit denen sich das Judentum eingehend befasst. An verschiedenen Stellen verurteilt die Tora den oder die Verleumder. Die Prophetin Miriam, die ihren Bruder Moses in Verruf gebracht hatte, erhielt in Form von Aussatz augenblicklich ihre Strafe. »Nimm keinen falschen Bericht an«, heißt es im 2. Buch Moses. »Gehe nicht als Zwischenträger in deinem Volk herum« ist eine der 613 Mizwot der Tora. Der »Zwischenträger« ist derjenige, der »Rechiles«-Nachrichten, wie es im Jiddischen so schön treffend heißt, erfindet und weitergibt.

Die rabbinischen Lehrer unterscheiden bei Verleumdung und übler Nachrede zwischen verschiedenen Formen, etwa der teilweise oder gänzlich erfundenen schlechten Nachricht oder der wahrheitsgemäßen Wiedergabe etwa einer schlechten Eigenschaft einer Person. Der Talmud berichtet, dass Rabbi Chama fragt: »Was bedeutet es, dass in den Sprüchen 18, 21 steht: ›Tod und Leben sind in der Zunge Hand?‹ Hat denn die Zunge eine Hand? Nein, sondern es steht dafür, wie eine Hand töten kann, so kann auch die Zunge töten.«

Maimonides Der Talmud sagt auch, dass durch Verleumdung drei Menschen zerstört werden: »Derjenige, der verleumdet, derjenige, der dem Verleumder zuhört, und schließlich derjenige, der verleumdet wird.« Maimonides (1138–1204) geht noch weiter. Er meint, derjenige, der seines Nächsten Reputation zerstört, auch wenn er die Wahrheit sagt, begehe eine noch größere Sünde als derjenige, der einen anderen verleumdet.

Verleumdung, einmal ausgesprochen, lässt sich kaum aus der Welt schaffen und nur schwer wiedergutmachen, selbst wenn sie später aufrichtig bereut wird. Der Chofetz Chajim, Rabbiner Israel Meir HaCohen Kagan (1838–1933), hat ein umfangreiches Werk zu diesem Thema verfasst. Dort findet man folgende Geschichte: Ein Mann kommt kurz vor Jom Kippur zum Rabbiner und bittet ihn, ihm zu vergeben, dass er völlig aus der Luft gegriffene Behauptungen über ihn aufgestellt hatte. Der Rabbiner macht den Mann darauf aufmerksam, dass diese Gerüchte ihm nachhaltig Schaden zugefügt haben und er deshalb auf eine besondere Zeremonie bestehen müsse.

Kissen Der Sünder solle sich ein neues Federkissen kaufen und am Markttag Punkt 12 Uhr, wenn die halbe Stadt vor dem Rathaus zum Einkaufen sei, laut ankündigen, dass er alle Vorwürfe und Gerüchte gegen den Rabbiner fallen lasse, alsdann das Kissen aufschlitzen und die Federn über seinem Kopf ausschütteln. Anschließend solle er sofort zum Rabbiner kommen. Gesagt, getan.

Beim Rabbiner angekommen, nimmt dieser mit Genugtuung zur Kenntnis, dass der Mann das ihm Aufgetragene erledigt hat. Der fragt den Rabbiner, ob er ihm nun vergeben habe. Dessen Antwort: »Könnte es dir gelingen, wenn du jetzt zurückgehst, alle Federn wieder einzusammeln, die du ausgeschüttet hast, dann wäre dir vergeben.«

So ist es auch mit dem Internetpranger: Jenseits der juristischen Bewertung und der Frage, ob im Einzelfall die Informationen berechtigterweise verbreitet werden, »fliegen Federn«. Gläubige Juden beten jeden Tag morgens, nachmittags und abends am Schluss der Schmone Esre, des Achtzehngebets: »Mein Gott, bewahre meine Zunge vor Bösem und meine Lippen, Falsches zu reden.« In Zeiten des Internets könnte man hinzufügen: Er bewahre auch meine Finger davor, mit der Tastatur Lügen zu verbreiten.

Der Autor ist geschäftsführender Direktor der Stiftung Topographie des Terrors und Rabbiner der Berliner Synagoge Hüttenweg.

Jubiläum

Stimme der Demokratie

Vor 75 Jahren wurde der Zentralrat der Juden in Deutschland gegründet. Heute hat das Gremium vielfältige Aufgaben und ist unverzichtbarer Teil dieses Landes

von Detlef David Kauschke  17.09.2025

Europäische Union

Wie die EU-Kommission Israel sanktionieren will

Ursula von der Leyens Kommission will Israel alle Handelsvergünstigungen streichen. Doch eine Mehrheit der Mitgliedsstaaten ist (noch) nicht in Sicht. Die Hintergründe

von Michael Thaidigsmann  17.09.2025

Meinung

Sánchez missbraucht ein Radrennen für seine Israelpolitik

Dass Spaniens Regierungschef die Störer der Vuelta lobte, ist demokratieschwächend und gehört zu seinem Kalkül, Israel weltweit zu isolieren

von Nicole Dreyfus  17.09.2025

Meinung

Die Tränen des Kanzlers

Bei seiner Rede in München gab Friedrich Merz ein hochemotionales Bekenntnis zur Sicherheit jüdischen Lebens ab. Doch zum »Nie wieder dürfen Juden Opfer werden!« gehört auch, den jüdischen Staat nicht im Stich zu lassen

von Philipp Peyman Engel  17.09.2025

Zentralrat

Schuster: Zwei-Staaten-Lösung nach Friedensverhandlungen mit Israel

Ein jeweils selbstständiger Staat Israel und Palästina - dafür spricht sich auch der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland aus. Unter bestimmten Voraussetzungen

von Leticia Witte  17.09.2025

Köln

Antisemitische Ausschreitungen bei Kreisliga-Spiel

Spieler des Vereins Makkabi wurden offenbar beschimpft, bespuckt und körperlich attackiert

 17.09.2025

Antisemitismus

Berliner Treitschkestraße wird am 1. Oktober umbenannt

Der Straßenname erinnert künftig an die im KZ Theresienstadt gestorbene ehemalige Direktorin des früheren jüdischen Blindenheims von Steglitz, Betty Katz (1872-1944)

 17.09.2025

Kritik

Toni Krahl hat »kein Verständnis« für israelfeindliche Demonstrationen

Was in der Region um Israel passiere, sei ein Drama, das sich über Jahrzehnte entwickelt habe, sagte Krahl

 17.09.2025

Berlin

Ahmetovic: Berlin muss Weg für Israel-Sanktionen freimachen

Der SPD-Politiker fordert, dass die schwarz-rote Koalition ihre »Blockadehaltung« beendet und die Vorschläge von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen für konkrete Maßnahmen gegen den jüdischen Staat unterstützt

 17.09.2025