Für die Überlebenden des Anschlags von Halle ist der Prozess gegen den Attentäter aus Sicht der Psychologin Marina Chernivsky von entscheidender Bedeutung bei der Bewältigung des traumatischen Erlebnisses. Der in der vergangenen Woche gestartete Prozess gegen den Attentäter Stephan B. wird an diesem Dienstag fortgesetzt.
MEHRHEITSGESELLSCHAFT »Die Überwindung eines Anschlags hängt sehr eng mit sozialen Faktoren zusammen, mit der Anerkennung durch die Mehrheitsgesellschaft und dem politischen Diskurs«, sagte die Geschäftsführerin der Beratungsstelle OFEK dem Evangelischen Pressedienst (epd) in Berlin.
»Der Anschlag ist ja schließlich nicht ›nur‹ ein individuelles Trauma, sondern ein politischer und gesellschaftlicher Einschnitt.« Die von Hass getriebene Gewalt habe nicht nur die Integrität einzelner Menschen getroffen, »sondern sich ganz klar gegen konkrete Gruppen gerichtet«, sagte Chernivsky: »Auch Menschen aus der jüdischen Community, die nicht vor Ort waren, fühlten sich mitgemeint.«
GEDÄCHTNIS Daher habe der Anschlag auf die Hallenser Synagoge am höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur am 9. Oktober vergangenen Jahres bedrohlich auf die gesamte jüdische Community gewirkt und im kollektiven Gedächtnis tiefe Spuren hinterlassen. OFEK berät Betroffene bei antisemitischer Gewalt und Diskriminierung.
Zusammen mit der Mobilen Opferberatungsstelle Sachsen-Anhalt hat OFEK die Teilnahme der Nebenkläger aus der Synagoge organisiert und begleitet sie auch vor Gericht.
Wichtig sei nun die Bereitschaft von Sicherheitsbehörden, Polizei, Justiz und Politik, Missstände zu thematisieren und grundlegend aufzuarbeiten: »Wenn dies ausbleibt, können weitere Gewalttaten nicht verhindert werden, und die Wirkung dieses Anschlags auf Überlebende wird verstärkt«, sagte Chernivsky.
Die Betroffenen nutzten das Recht der Nebenklage, um mit Anträgen, Fragen und ihrer Präsenz im Gerichtssaal den Prozess mitzugestalten, nicht als Opfer, sondern als Überlebende und politische Akteure: »Sie fordern die Aufarbeitung des Anschlags, nicht als Einzeltat, sondern als Teil der Kontinuität rechter, antisemitischer, rassistischer Gewalt in Deutschland.«
NEBENKLÄGER Zusammen mit der Mobilen Opferberatungsstelle Sachsen-Anhalt hat OFEK die Teilnahme der Nebenkläger aus der Synagoge organisiert und begleitet sie auch vor Gericht. Schon unmittelbar nach dem Anschlag sei mit »sofortiger Krisenintervention« reagiert worden, »wohlwissend, dass extreme Gewalt traumatisierende Wirkung haben kann«.
Stephan B. hatte am 9. Oktober 2019 einen Anschlag auf die Synagoge in Halle verübt, zwei Menschen erschossen und weitere verletzt. Die Bundesanwaltschaft klagt den 28-Jährigen wegen Mordes in zwei Fällen und versuchten Mordes in mehreren Fällen sowie weiteren Straftaten an. Es gibt in dem Verfahren am Oberlandesgericht Naumburg 43 Nebenkläger. epd