Eine monatelange politische Hängepartie in Brüssel ist vorbei. Das Europäische Parlament gab vergangene Woche mit deutlicher Mehrheit grünes Licht für die von Ursula von der Leyen geführte neue EU-Kommission – sechs Monate nach der Parlamentswahl. Ihren 26 Kommissaranwärtern hatte die neue Chefin bereits im September eine detaillierte Aufgabenbeschreibung ihrer jeweiligen Ressorts ausgehändigt. Zum Amtsantritt gab es nun eine überarbeitete Fassung.
Von der Leyens Vize Margaritis Schinas bekam überraschend nicht nur die Zuständigkeiten für Bildung und Migration (das war schon vorher bekannt). Er soll nun auch den Dialog mit Kirchen und Religionsgemeinschaften koordinieren.
team Mehr noch: Die EU-Antisemitismusbeauftragte Katharina von Schnurbein, seit 2015 im Amt, wird künftig direkt bei Schinas angesiedelt sein. Unterstützt werden soll die Deutsche, so von der Leyen in ihrem »Mission Letter« an Schinas, von »einem neu eingesetzten Team«, welches sich ausschließlich um diese Thematik kümmern werde.
In ihrer Vorstellungsrede vor dem Europäischen Parlament im Juli hatte von der Leyen den Antisemitismus gar nicht erwähnt.
Das lässt dann doch aufhorchen. In ihrer Vorstellungsrede vor dem Europäischen Parlament im Juli hatte von der Leyen den Antisemitismus gar nicht erwähnt. Noch vor Kurzem war sie heftiger Kritik ausgesetzt, weil sie Schinas als »Kommissar zum Schutz der europäischen Lebensweise« designiert und ihm sodann das Migrationsportfolio übertragen hatte, nachdem drei der von ihr vorgeschlagenen neuen Kommissare vom Parlament mit krachender Mehrheit abgelehnt worden waren.
Dass in der EU-Kommission über Antisemitismus geredet wird, ist nicht neu – dass ernsthaft etwas unternommen wird, hingegen schon. Bereits 2004 hielt der damalige Präsident Romano Prodi ein Seminar zum Thema ab und lud jüdische Verbände ein. Zuvor hatte es harte Kritik an seiner Kommission gegeben: Hochrangige jüdische Vertreter hatten der Kommission vorgeworfen, den Antisemitismus eher zu fördern als zu bekämpfen.
massnahmen Das hat sich nun geändert. Zwar waren die EU-Institutionen schon immer besser im Abnicken hehrer Entschließungen als in der konkreten Umsetzung von Maßnahmen gegen Judenhass. Doch seit von Schnurbeins Berufung zur ersten Antisemitismusbeauftragten hat sich das fundamental geändert. Nun hat ihr Ursula von der Leyen eine prominentere Rolle zugewiesen – mit einem Mitarbeiterstab, der ihr zuarbeiten wird. Das hört sich nicht wie eine Revolution an, ist aber für Brüsseler Verhältnisse durchaus bemerkenswert.
Erstmals werden europaweit konkrete Schritte unternommen.
Die Entscheidung kommt eher überraschend. Von der Leyen machte sie auch nicht großartig publik, sondern versteckte sie in dem »Mission Letter« an Schinas. Sie wird wissen, warum. Im Brüsseler Betrieb und vor allem in den Mitgliedsstaaten schauen einige sehr eifersüchtig darauf, dass dem Kampf gegen Antisemitismus nicht mehr Aufmerksamkeit zuteilwird als dem Kampf gegen andere Formen von Intoleranz.
Niemand möchte sich dem Vorwurf aussetzen, eine Opfergruppe zu bevorzugen. Das führte in der Vergangenheit oft dazu, dass alle gleichermaßen vernachlässigt wurden. Jedenfalls kam in der Praxis nur wenig Konkretes zustande.
zukunft Heute ist das anders. Es sieht so aus, als hätte Brüssel endlich verinnerlicht, dass Europa und seine offene Gesellschaft nur dann eine Zukunft haben, wenn es gelingt, die älteste Form des Rassismus, den Antisemitismus, zurückzudrängen.
Europas Politiker haben verstanden, dass es nicht ausreicht, einmal im Jahr der sechs Millionen ermordeten Juden zu gedenken, es andererseits aber hinzunehmen, wie die Lage für die lebenden Juden von Jahr zu Jahr schwieriger wird.
Ja, in vielen Fragen hat die EU-Kommission schlicht keine Zuständigkeit. Sie ist auf die Einstimmigkeit der nationalen Regierungen angewiesen, wenn sie etwas durchsetzen will. Mit ihrer Aufwertung des Amtes der Antisemitismusbeauftragten sendet von der Leyen aber ein Signal aus: Der Kampf gegen Antisemitismus hat Priorität, er wird hervorgehoben und bekommt endlich die notwendigen Ressourcen.
standing In nur vier Jahren Amtszeit hat Katharina von Schnurbein es nämlich geschafft, das Standing der Kommission bei den vielen in Brüssel ansässigen jüdischen Organisationen zu verbessern. Sie hat die IHRA-Antisemitismusdefinition auf EU-Ebene verankert und gleichzeitig viele konkrete Projekte angestoßen – vor allem für kleinere jüdische Gemeinden in Europa ein Segen.
In nur vier Jahren Amtszeit hat Katharina von Schnurbein es geschafft, das Standing der Kommission bei den in Brüssel ansässigen jüdischen Organisationen zu verbessern.
Endlich werden EU-Fördermittel für jüdische Projekte bewilligt, beispielsweise für die Vermessung und Instandsetzung verlassener jüdischer Friedhöfe in Osteuropa, für Bildungs- und Jugendprojekte und vieles mehr.
Nächste Woche tagt in Brüssel zum zweiten Mal eine Arbeitsgruppe mit hochrangigen Vertretern der 28 Mitgliedsstaaten sowie der jüdischen Gemeinden, welche bis zum kommenden Jahr für die Umsetzung der Erklärung des EU-Ministerrates vom Dezember 2018 sorgen soll. Erstmals werden europaweit konkrete Schritte unternommen.
Noch steht vieles nur auf dem Papier. Noch sind manche EU-Länder nur halbherzig bei der Sache. Aber es scheint, Europa zieht im Kampf gegen Antisemitismus endlich an einem Strang und – noch wichtiger – in dieselbe Richtung.
Der Autor ist Korrespondent in Brüssel.