Heydrich spricht: »Ist mir aufgetragen worden, eine Endlösung der Judenfrage und die damit zusammenhängende Arbeit …« – »Stopp. Schmeck diesen Text ab! Nicht ablesen. Das ist das erste Mal, dass wir dieses Thema hören. Es ist der Auftakt. Das kannst du mehr betonen«, korrigiert Christian Tietz seinen Schauspieler.
Dieser verliest wieder seinen Text, ohne in die Akte zu sehen. »… zumal seit dem 10.10.1941 Juden in den Transporten in die Ostgebiete …« – »Halt. Da auch!«, ruft Tietz. »Das ist eine neue Zeitrechnung. Die Transporte haben begonnen!«
Der Schauspieler nickt. »Ich lade Sie daher zur Diskussion mit anschließendem Frühstück …« – »Ja! Da auch. Die Distanz! Judenfrage mit Frühstück. Was der Historiker Jentsch da in den Briefen gefunden hat …«, sagt Tietz begeistert und schnippt mit dem Finger. Stopp. Wo sind wir hier?
speisezimmer Wir sind in der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz am Großen Wannsee 56/58. Wir sitzen im ehemaligen Speisezimmer im Erdgeschoss. Wir blicken auf kahle Bäume, einen kleinen Steg und den sanft da liegenden See.
Die Sonne scheint in den holzvertäfelten und mit Wandstoff ausgekleideten Raum, wir sehen eine Karte des Deutschen Reichs, die Ostmark, wir sehen Konterfeis vom »Chef der Sicherheitspolizei und des SD SS-Gruppenführer Heydrich« über »Gauleiter Dr. Mayer« bis hin zum »Reichamtsleiter Dr. Leibbrandt vom Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete«. 15 Herren in Uniform, Teilnehmer der »Wannsee-Konferenz« vom 20. Januar 1942, welche die »Endlösung der Judenfrage« zum Thema hatte und den Beginn der systematischen Ermordung der Juden in Europa markiert.
Es läuft einem schon ein Schauer über den Rücken, wenn man an diesem historischen Ort in diesem Raum sitzt und einem Mann zuhört, der dem Gruppenführer Heydrich auch noch ein wenig ähnelt und diesen mit einer gewissen Kühle wie Schärfe tatsächlich ergreifend »authentisch« darstellt – ob nun gewollt oder nicht.
Das ist ziemlich umwerfend. Bahn brechend. Eine punktgenaue Sezierung und pünktliche Inszenierung zum 70. Jahrestag am exakt historischen Ort – auch wenn es als umstritten gilt, ob die Besprechung nun im Speisezimmer oder in einem der angrenzenden Räume oder im ersten Stock stattgefunden hat.
Oder ist das wieder ein Musterbeispiel für die einzigartige Aufarbeitung einzigartiger Verbrechen, für die die Bundesrepublik in der Welt so bewundert wird (der Aufarbeitung, nicht der Verbrechen)? Sind wir nicht Weltmeister der Gedenkkultur, für die man den Deutschen weltweit Anerkennung …
Stopp. Nein, jener junge Mann mit den kurzen blonden Haaren ist kein Schauspieler. Felix Jentsch ist Historiker in Berlin. Alle Darsteller des Dokumentar-Theater-Projekts »Die Wannsee-Konferenz« sind Historiker oder Mitarbeiter historischer Kommissionen und Projekte – mit Ausnahme des Regisseurs Christian Tietz, der tatsächlich Regisseur ist und im Berliner Ortsteil Wannsee wohnt. Das ist das Einzigartige an der Theatertruppe.
public history »Für mich ist das ein besonderer Zugang zu dieser Public History, wie man Geschichte öffentlich vermittelt«, sagt der Historiker Olaf Löschke, der in diesem Projekt Eberhard Schöngarth ist, »Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD im Generalgouvernement«, einer der unbekannteren Teilnehmer der Wannsee-Konferenz. Löschke greift damit einen neueren Begriff auf: Public History. »Wir wollen nicht sagen: So war es, sondern so könnte es gewesen sein. Es ist für uns eine Annäherung.«
Daher verzichte man bei den Aufführungen auch auf Uniformen. Die Historiker wollen nicht darstellen, personifizieren oder interpretieren, sie wollen sich annähern. »Größtenteils sind wir in diesem historischen Kontext ausgebildet«, sagt Löschke. Einige der Historiker haben sich ihrer historischen Person also bereits in ihren Forschungen genähert.
So hat sich Hans-Christian Jasch, Verwaltungsbeamter und Rechtshistoriker in Brüssel und Berlin. zehn Jahre mit der Person Wilhelm Stuckart, Reichsministerium des Innern, beschäftigt. »Das ist natürlich ein Glücksfall, dass wir den gewinnen konnten«, sagt Löschke. Aber Halt.
Die Historiker sitzen, Rücken an Rücken, auf Stühlen. Die sind in der Mitte des ehemaligen Speiseraums aneinandergereiht. Jeder hat einen Leitz-Ordner in der Hand, auf dem das Bild seiner historischen Person klebt. In den Ordnern befinden sich die Kopien historischer Akten. Mal werden Schreiben verlesen, Notizen, ein Vermerk Himmlers zitiert. Mal steht ein Historiker auf und verliest den Schreckensbericht eines Opfers und Zeitzeugen.
Es fallen Sätze wie »Säubern auf legale Weise«. »Der Führer ist bereit, klaren Tisch zu machen.« »Die Finanzierung erfolgte durch die jüdischen Organisationen.« »Wenn der Ostfeldzug über 160.000 deutsche Opfer gekostet hat, müssen die Urheber dieses blutigen Konflikts mit dem Leben bezahlen« (Tagebuch von Joseph Goebbels).
altreich Schließlich subsumiert Heydrich nüchtern die Zahlen von A wie Altreich bis U wie UdSSR und errechnet »11 Millionen Juden, die im Zuge dieser Endlösung der europäischen Judenfrage in Betracht kommen«.
Der Schauer nimmt kein Ende. Und doch offenbart sich ein Stück der »Banalität des Bösen« (Hannah Arendt) auch hier. »Wir wollten es anders machen. Jeder ist ein Experte für seine Person, das ist der wissenschaftliche Ansatz. Was wirklich in diesen 90 Minuten geschah, wissen wir nicht. Aber die verschiedenen Möglichkeiten sind doch viel interessanter«, sagt Regisseur Christian Tietz, ein Mann mit feurigem Lockenkranz und quirligen Händen. Der Text sei dergestalt Gemeinschaftsarbeit.
Tietz ist Übersetzer und Stückebearbeiter. Er hat im Laien- wie im Jugendtheater gearbeitet. In Stockholm inszenierte er »Mein Kampf«. Das Haus am Wannsee ist für ihn seine zweite Bibliothek. »Es ist ein schreckensbeladener Ort. Damals lag Neuschnee, die Sonne schien, das alles sollte sagen: Wir treffen uns in einem schönen Ambiente. Man wollte etwas passendes Gemeinsames veranstalten, das kann man am besten bei einem Picknick erreichen.«
Auch das passt wieder zur Faszination der historischen Banalität des Bösen. Und da läuft in diesem historischen Experiment der Historiker Jentsch zu Höchstform auf: »… da in unserer Absprache die Grundlinie in Bezug der Durchführung festgelegt ist …« – »Aha: also festgelegt. Das betonst du: Wir sind uns alle einig …«, sagt Tietz – »… in freudiger Übereinstimmung …«, fährt Jentsch fort und Tietz hält es jetzt kaum noch auf dem Stuhl: »Ja: in freudiger Übereinstimmung! Wir wissen Bescheid! Wir wissen, was du willst …«
»Heil Hitler, Ihr Heydrich.«
Man ist sich einig. Das war die bisher beste Probe.