Herr Schuster, wie blicken Sie aus Sicht der jüdischen Gemeinschaft auf die zu Ende gehende Legislaturperiode? Was wurde geschafft, und was bleibt als drängendes Thema bestehen?
Positiv zu nennen ist die Stelle des Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung, die geschaffen wurde und die Felix Klein innehat. Auch gibt es ähnliche Strukturen mit Beauftragten auf Ebene der Bundesländer. Sie tauschen sich in einer Bund-Länder-Kommission aus. Was dagegen aussteht, aber im Koalitionsvertrag festgehalten ist, ist die Bekämpfung von Altersarmut jüdischer Zuwanderer, den sogenannten Kontingentflüchtlingen aus der früheren Sowjetunion. Es hat lange gedauert bis zu einer Fondslösung, die aktuell in der Abstimmung zwischen Bund und Ländern ist. Dabei klemmt es allerdings, und es sind dunkle Wolken zu sehen. Denn die Finanzierung ist ein Problem.
Dunkle Wolken zogen auch anderweitig in den vergangenen Jahren auf: Höchststände bei den erfassten antisemitisch motivierten Straftaten, der Anschlag von Halle im Oktober 2019, Vorfälle an Synagogen im Mai dieses Jahres im Zuge des Nahostkonflikts.
Das alles ist natürlich nicht der Bundesregierung, sondern einer politischen Gesamtentwicklung anzulasten. Wir haben zum Beispiel eine Partei im Bundestag, die meiner Meinung nach antisemitische und rassistische Vorurteile verbreitet. Und Worten können Taten folgen. Dass in der Corona-Pandemie Minderheiten in eine vermeintliche Verantwortung dafür gezogen werden, ist zudem ein altes Muster. Und dass sich Konflikte in Nahost in Deutschland widerspiegeln, sahen wir bereits 2014.
Vor der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt am 6. Juni haben Sie gemahnt, dass radikale Kräfte zurückgedrängt werden müssten.
Aktuellen Umfragen zufolge könnte die AfD bei der Bundestagswahl um die elf Prozent der Stimmen bekommen. Das ist zu viel. Allgemein habe ich in der Legislaturperiode keine konstruktiven Vorschläge der AfD-Fraktion gehört.
Um noch einmal auf die Bundesregierung zurückzukommen: Was ist aus Sicht der jüdischen Gemeinschaft erfreulich verlaufen?
Der Staatsvertrag zwischen dem Zentralrat der Juden und der Bundesregierung wurde angepasst, sodass der jährliche Bundeszuschuss von zehn auf 13 Millionen Euro angehoben wurde. Nach dem Anschlag auf die Synagoge in Halle 2019 hat die Bundesregierung erhebliche Mittel zum Schutz jüdischer Einrichtungen bereitgestellt. Diese Mittel werden gerade in Absprachen mit dem Bundeskriminalamt und den Landeskriminalämtern abgerufen.
Welche Herausforderungen bleiben für die neue Bundesregierung?
Es bleiben Herausforderungen politischer Art. So muss vor allem proaktiv gegen Antisemitismus vorgegangen werden. Darüber hinaus bleibt die Erinnerung an die NS-Verbrechen sehr wichtig, wo ich vor allem die KZ-Gedenkstätten im Blick habe, die angemessen unterstützt werden müssen.
Aktuell läuft das Festjahr »1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland«. Welche Impulse können aus Ihrer Sicht über das Festjahr hinaus davon ausgehen?
Es bleibt, dass die Selbstverständlichkeit jüdischen Lebens in 1700 Jahren und darüber hinaus sichtbar gemacht wird. Und auch die Vielfalt im Judentum, von der ich ein großer Freund bin. In beiden Punkten sehe ich eine positive Entwicklung. Hinzu kommt, dass mit vielen unterschiedlichen Veranstaltungen im Internet und im Fernsehen auch mehr Menschen erreicht werden können.
Der Präsident der Konferenz der Europäischen Rabbiner, Oberrabbiner Pinchas Goldschmidt, sagte kürzlich, dass Deutschland in der Frage der Religionsfreiheit ein Modell für andere Staaten werden könnte. Denn hierzulande sei die Beschneidung von Jungen möglich. Auch das Schächten, das rituelle Schlachten von Tieren ohne Betäubung, werde nicht unterdrückt. Wie sehen Sie das?
Die Religionsfreiheit hat in Deutschland einen hohen Stellenwert. In der Beschneidungsdebatte im Jahr 2012 bekamen wir Unterstützung auch von den beiden großen Kirchen, die erkannten, dass es nicht nur um den konkreten Fall der Beschneidung ging, sondern allgemein um die Religionsfreiheit, die ja auch Muslime betrifft.
Apropos Muslime: Wie stellen Sie sich künftig das Miteinander von Juden und Muslimen in Deutschland vor?
Ich wünsche mir engere Kontakte. Der Zentralrat hat das Dialogprojekt »Schalom Aleikum« initiiert, in dem sich zum Beispiel Sportler oder Unternehmer begegnen, also Menschen jenseits der Funktionärsebene. Auf dieser Ebene wiederum gibt es nicht den einen muslimischen Verband. Wir sehen auch Verbände, die teilweise vom Ausland gesteuert und massiv beeinflusst werden, etwa die Ditib. Eine Möglichkeit zu einer engen Zusammenarbeit sehe ich von unserer Seite aber nur mit Verbänden, die nicht einem solchen Einfluss unterliegen.
Mit dem Präsidenten des Zentralrats der Juden sprach Leticia Witte.