Welche Pessach-Erlebnisse teilen heutzutage eine ehemalige Kinderärztin, ein alter Professor und eine frühere Telegrafistin – und zwar die, die als Erste die Welt über Juri Gagarins Weltraumflug informierte? Sie reihen sich in die Warteschlangen ihrer Gemeinden ein, um Pessach-Pakete für bedürftige Juden entgegenzunehmen. Denn sie leben in Deutschland von der Grundsicherung.
Was haben zahlreiche emigrierte und heute in Deutschland tätige jüdische Ärzte, Ingenieure, Angestellte zwischen 50 und 60 gemeinsam? Sie kamen mit langer Berufserfahrung in das Deutschland der 90er-Jahre. Beharrlich lernten sie die Sprache, um sich dann mit gebrochenem Deutsch und ungebrochenem Arbeitswillen auf dem überfüllten Arbeitsmarkt zu behaupten.
warteschlange In ein paar Jahren eint sie die Warteschlange für Bedürftige. Für sie wird es kein Wunder geben, kein gelobtes Land am Ende der Armenwüste. Denn sie alle sind sichere Kandidaten für die Grundsicherung. Keiner eilt ihnen zu Hilfe, keiner redet über sie in den Talkshows. Von Sigmar Gabriel bis Hannelore Kraft – wenn sie in diesen Wochen über Altersarmut sprechen, so sprechen sie über andere, nicht über uns.
Mit Erleichterung wurde in deutschen Medien die Nachricht aufgenommen, dass eine Recherche des WDR zur Altersarmut einen gravierenden Rechenfehler aufwies. Tagelang hatte die Meldung alle in Angst und Schrecken versetzt, besagte sie doch, dass mehr als die Hälfte der deutschen Rentner ab 2030 in Armut leben wird. Doch nun soll die Zahl realistischerweise bei neun Prozent liegen. Somit war das Thema für die deutsche Öffentlichkeit gegessen.
Unverdaulich aber bleibt die Tatsache, dass fast alle jüdischen Senioren heute unter der Armutsgrenze leben. Und es werden noch mehr: die Ärzte oder Ingenieure über 50, die in ihrer kurzen Arbeitszeit in Deutschland weder ausreichend Rente noch genügend Vermögen ansammeln konnten – Kandidaten für den sozialen Absturz.
statistik Gemäß der neuesten Statistik der ZWST sind 47 Prozent aller Gemeindemitglieder schon heute über 60 Jahre alt. Weitere 13 Prozent sind zwischen 51 und 60. Die allermeisten dieser Menschen sind ehemalige Sowjetbürger mit keinerlei oder nur minimalen Rentenansprüchen. Das bedeutet, dass die Hälfte unserer Gemeindemitglieder (nein, nicht die Hälfte aller Rentner!) in altersbedingter Armut leben wird, beziehungsweise es schon heute tut.
Dass die obere Alterskohorte auch noch Schoa-Überlebende sind, scheint keinen in der deutschen Öffentlichkeit zu interessieren. Warum auch? Das Gedenken an den Holocaust findet ja regelmäßig in Form von Kranzniederlegungen statt. Das Sozialministerium winkt immer wieder ab. Angeblich kein Handlungsbedarf.
Wir sollten es Andrea Nahles und Kollegen erklären: Neuerdings brüstet man sich damit, sich um die »Migranten« zu kümmern. Vorbildlich! Nur: Auch wir sind Migranten. Wir benötigen keine speziellen Förder- oder Willkommensklassen, wir verlangen keine Programme zur De-Radikalisierung unserer Jugendlichen. Es gehört auch nicht zu unseren Mantras, dass wir nach mehr Menschen mit russischen, ukrainischen oder russisch-jüdischen Namen im Fernsehen verlangen. Nicht, dass diese Forderungen unberechtigt wären, aber es sind nun einmal nicht unsere Bedürfnisse.
sozialämter Unsere Forderung – und zwar seit Jahrzehnten – ist diese eine: Wir wollen, dass die Biografien unserer Mütter, Väter und Großeltern nicht mit dem Zeitpunkt der Einwanderung aufhören zu existieren, dass sie nicht ihren Alltag auf Sozialämtern verbringen müssen. Auch erfolgreiche jüngere Migranten empfinden die Abwertung ihrer Großeltern als eigene Abwertung. Diese Narben werden bleiben. Die Narben zwischen uns und unserer neuen Gesellschaft.
Einige aus der älteren Generation versuchen, selbst zu kämpfen. Sie schreiben Briefe an den Bundespräsidenten, die Kanzlerin oder wie früher an die Partei, nur auf Deutsch und mit Schreibfehlern. Ich kenne eine ältere Dame, die immer ein bisschen überdreht kämpft: Mit Zeitungsausschnitten, Briefen und Vorhaltungen will sie auf die soziale Misere älterer Juden aufmerksam machen.
Eines Tages entdeckte ich im Internet die Werke einer mir unbekannten, sehr faszinierenden Dichterin: verrückte, expressive Gedichte. Man kann sie von vorne wie von hinten lesen, und je nachdem, in welche Richtung man liest, eröffnen sich immer neue Inhalte. Ich fragte mich, wie viel Neues wir entdecken könnten, würden wir die Lebensgeschichten unserer älteren Gemeindemitglieder aus heutiger Perspektive lesen, also von hinten. Ich schaute auf den Namen der Dichterin. Es war jene ältere Dame aus der Berliner Gemeinde, die mich noch am Tag zuvor mit einem neuen Briefentwurf an Frau Merkel bedrängt hatte. Ein bisschen überdreht kam sie mir vor. Ganz wie die Gedichte aus ihrem anderen Leben, wo sie keine Grundsicherungsempfängerin, sondern eine stolze und verrückte Dichterin ist.
Der Autor ist Anwalt und Publizist in Berlin.