Nahost

Pragmatisch handeln

Zahal-Soldaten sorgen gemeinsam mit Polizistinnen für die Sicherheit in Jerusalems Innenstadt. Foto: Flash90

Die Entscheidungen des israelischen Sicherheitskabinetts am Samstagabend sind irgendwie schon bekannt. Es galt zu klären, wie man auf die beiden Terrorangriffe in Jerusalem reagieren sollte. Man entschied, das Haus eines Attentäters zu versiegeln, was dann im nächsten Schritt bedeuten würde, dass man es alsbald abreißt. Man entschied, dass man alle, die irgendwie in terroristische Aktivitäten verwickelt waren und sind, aus Jerusalem verbannt und ins Westjordanland abschiebt.

Und dann entschied man auch noch, dass das Prozedere zur Erlangung von Waffen verkürzt werden soll, weil der neue ultrarechte Nationale Sicherheitsminister Itamar Ben-Gvir gefordert hat, dass sich Israelis schneller bewaffnen können sollen, um sich vor Terror zu schützen. Was jedoch abgelehnt wurde, wie Ronen Bar, der Chef des Inlandsgeheimdienstes Schin Bet, erklärte, war die völlige Abriegelung ganzer Stadtteile im arabischen Teil von Ost-Jerusalem. Das war auch eine Forderung von Ben-Gvir.

massnahmen Die Maßnahmen sind nicht neu. Und insofern weiß man auch, dass sie völlig wirkungslos sind. Häuserabrisse, so stellte eine Kommission der IDF bereits 2005 fest, haben nicht nur keine abschreckende Wirkung, sondern fördern Wut und Hass. Dasselbe gilt für die Abschiebungen, die im Westjordanland die Menschen zur Weißglut treiben. Und dass nun alle bewaffnet herumlaufen sollen?

Beruhigt auch nicht wirklich, im Gegenteil. Wenn man weiß, wie vorsichtig und umsichtig die Genehmigungen für das Tragen von Waffen erteilt werden, dann kann man sich vorstellen, dass bei einem verkürzten Verfahren viele Kriterien nicht mehr berücksichtigt werden.

Nachdem die beiden jüngsten Terrorangriffe mit illegalen Waffen ausgeübt wurden, hat Ben-Gvir zudem angekündigt, dass er mit der Polizei von Viertel zu Viertel ziehen will, um Waffen ausfindig zu machen und zu beschlagnahmen. Das kann er sicher versuchen, aber er wird nur auf Widerstand stoßen und die Bereitschaft zur Gewalt weiter anheizen. Von einer sinnvollen Bekämpfung des Terrors und vielleicht auch der Abwehr einer Dritten Intifada kann bei solchen Maßnahmen wahrlich nicht gesprochen werden.

geheimdienste Doch wahrscheinlich wird so gut wie nichts wirklich umgesetzt werden – wie es bereits früher der Fall war. Premier Netanjahu, Verteidigungsminister Galant und die Chefs aller Geheimdienste haben viel Erfahrung im Kampf gegen Terror und wissen, dass reiner Aktionismus zu nichts führt.

Die Erfahrung zeigt, dass reiner Aktionismus zu nichts führt.

Als beispielsweise 2015/16 die sogenannte Messer-Intifada tobte, als damals sogenannte Einsame Wölfe, die keiner islamistischen Organisation angehörten, Attentate verübten, arbeiteten alle Sicherheitsbehörden Israels eng verzahnt miteinander, um in mühseliger Kleinstarbeit und mit viel Geduld ein System aufzubauen, wie man potenzielle Attentäter entdeckt, ehe es zur Tat kommt. Man entwickelte Methoden in der realen und der virtuellen Welt. Und siehe da – nach ein paar Monaten war diese Gewaltwelle vorbei.

Ob das diesmal wieder so gelingen kann? Ben-Gvir und Bezalel Smotrich, die beiden Extremisten und vor allem: Neulinge im Metier, scheinen eher Aggression mit Gegenaggression beantworten zu wollen. Netanjahu dürfte wahrscheinlich alles versuchen, um keine »Palästinensische Front« aufzubauen.

justizumbau Er will den Justizumbau vorantreiben, aber vor allem will er außenpolitisch zwei Dinge erreichen: den Iran daran hindern, die Atombombe zu bekommen, und einen Normalisierungsvertrag mit Saudi-Arabien erreichen. Für beides braucht er die volle Unterstützung der Amerikaner, die, wie man beim Besuch von US-Außenminister Antony Blinken in Jerusalem sehen und hören konnte, nicht »amused« sind über die Gefahr eines Endes der Demokratie in Israel.

Netanjahu will aber diese Politik auf alle Fälle fortsetzen, um irgendwie aus seinem Prozess wegen mutmaßlicher Korruption herauszukommen. Daneben aber jetzt eine Dritte Intifada durch eine provokative Politik mit auslösen? Dann wären die Amerikaner richtig sauer, und sie haben den Israelis bereits mehr oder weniger offen gesagt, dass sie sie in Sachen Iran und Saudi unterstützen, aber nur wenn …

Für Netanjahu wird es also darum gehen, irgendwie seine alte Pragmatik beizubehalten und vor allem durchzusetzen gegen zwei politisch extreme Hitzköpfe, die nicht verstehen, dass die Erlösung Israels, wie sie sich das in ihrer theologisch-ideologischen Weltsicht wünschen, nicht so ohne Weiteres zu machen ist. Ohne die USA, sogar ohne die EU, geht nicht viel.

funktionieren Und wenn dann noch die Justizpläne der Regierung dazu führen, dass, wie schon begonnen, internationales Geld von den israelischen Banken abgezogen wird, wenn die Rating-Agenturen Israel möglicherweise herunterstufen werden, wenn Firmen, Banken, Joint Ventures, Venture Capital und die Hightech-Szene abwandern, dann können die Extremen schauen, wie sie mit ihren Anhängern und säkular eher ungebildeten Ultraorthodoxen einen modernen Staat am Leben erhalten wollen, vom Funktionieren der Armee ganz zu schweigen.

Ob es zu einer Dritten Intifada kommt, ist natürlich eine Entscheidung der Palästinenser. Doch Israel könnte einiges tun, um die Bereitschaft zur Gewalt vielleicht ein bisschen herunterzuschrauben. Es liegt an Netanjahu. Er muss zeigen, wieder einmal, dass er wirklich Herr seiner Koalition ist.

Der Autor ist Publizist und lebt in Tel Aviv.

Debatte

Darf man Israel kritisieren?

Eine Klarstellung von Rafael Seligmann

von Rafael Seligmann  21.11.2024

Medienberichte

Holocaust-Leugnerin Ursula Haverbeck im Alter von 96 Jahren gestorben

In der rechtsextremen Szene wird sie bewundert

 21.11.2024

Washington D.C.

US-Senat gegen Blockade einiger Waffenlieferungen an Israel

Eine Gruppe von Demokraten scheitert mit ihrem Vorstoß

 21.11.2024

Fachtagung

»Kulturelle Intifada«

Seit dem 7. Oktober ist es für jüdische Künstler sehr schwierig geworden. Damit beschäftigte sich jetzt eine Tagung

von Leticia Witte  20.11.2024

Russlands Krieg in der Ukraine

1000 Tage Krieg

Die Ukraine hat gerade ein bitteres Jubiläum begangen - 1000 Tage Krieg. Wie leben die Menschen dort, begleitet von so viel Tod und Zerstörung? Streiflichter von einem einzelnen Tag geben einen kleinen Einblick

von Illia Novikov  20.11.2024

Berlin

Prozess gegen Teilnehmer israelfeindlicher Uni-Besetzung eingestellt

Die Aktion an der Humboldt Universität bleibt auch wegen der dort verbreiteten Pro-Terror-Propaganda in Erinnerung

 20.11.2024

Meinung

Jung, jüdisch, widerständig

Seit dem 7. Oktober 2023 müssen sich junge Jüdinnen und Juden gegen eine Welle des Antisemitismus verteidigen

von Joshua Schultheis  20.11.2024

USA

Trump nominiert Juden für das Handelsministerium

Howard Lutnick ist Chef des New Yorker Finanzunternehmens Cantor Fitzgerald

von Andrej Sokolow  20.11.2024

Wien

IAEA: Iran will Uran-Produktion beschränken

Dabei hat das Mullah-Regime seinen Uran-Vorrat zuvor massiv aufgestockt

 20.11.2024