Es gibt Geschehnisse, die prägen einen Menschen und bestimmen seinen künftigen Lebensweg. Als der 18 Jahre alte Ludwig Guttmann 1917 in einer Bergwerksklinik in Schlesien als freiwilliger Krankenhelfer arbeitet, wird auf seiner Station ein Arbeiter eingeliefert. Er ist nach einem Grubenunfall querschnittsgelähmt. »Da brauchst du dich nicht groß drum zu kümmern«, sagt ein Pfleger: »Der stirbt in ein paar Wochen.« Fünf Wochen später ist der gelähmte Kumpel tot, gestorben an einer Harnwegsentzündung und am Wundfieber.
Dieses Erlebnis habe seinen Wunsch, Arzt zu werden, wesentlich geprägt, erinnerte sich Ludwig Guttmann später. Im April 1918 nahm er an der Universität Breslau das Studium der Medizin auf. Bald wurde er mit dem zu dieser Zeit verbreiteten, auch gewalttätigen studentischen Antisemitismus konfrontiert. Guttmann, nicht gerade groß gewachsen, aber von kräftiger Statur, zog daraus seine Konsequenzen: »Niemand braucht sich zu schämen, Jude zu sein.« Er stellte sich der Auseinandersetzung, durch Kampfsport und Krafttraining körperlich vorbereitet. Nicht ducken, hinnehmen und wegschauen, sondern hinschauen, zupacken und kämpfen.
Aus dem jungen Krankenpfleger und sportlichen Studenten wurde ein namhafter Neurologe und drei Jahrzehnte später der Begründer des Behindertensports und Vater der Paralympics. »Wenn ich etwas Gutes in meiner medizinischen Laufbahn getan habe, dann war es das, dass ich den Sport bei der Rehabilitation von behinderten Menschen genutzt habe«, sagte Guttmann einmal in einer Rückschau auf sein Lebenswerk.
karriere Ludwig Guttmann wurde am 3. Juli 1899 im oberschlesischen Tost, dem heutigen polnischen Toszek, geboren. Er wuchs in einem orthodoxen Elternhaus auf, in dem gegenseitige Hilfe und Wohltätigkeit eine religiöse, aber vor allem auch menschliche Verpflichtung waren. Nachdem er 1924 sein Studium beendet hatte, arbeitete Guttmann als Neurologe an einer Hamburger Klinik. 1929 wechselte er dann als Chefarzt an das Wenzel-Hanke-Krankenhaus in Breslau, wo er bis 1933 tätig war.
Weil die Nationalsozialisten nach der Machtübernahme ein Berufsverbot für jüdische Ärzte verfügten und diese nur noch jüdische Patienten behandeln durften, wechselte der Neurochirurg und Präsident der jüdischen Medizinervereinigung, der von seinen Freunden »Poppa« gerufen wurde, ans Jüdische Krankenhaus in Breslau. Doch sein Ruf bei der Behandlung von Rückenmarksverletzten mit Lähmungserscheinungen war deutschland- und weltweit in Fachkreisen so groß, dass Nazi-Außenminister Joachim von Ribbentrop ihn – den Juden – im Auftrag des Reichs 1938 nach Lissabon schickte, um einen Freund des dortigen Diktators Salazar zu behandeln.
Seine Rückreise nutzte Guttmann, um in London Kontakt mit der »Society for the Protection of Science and Learning« aufzunehmen, die jüdischen Ärzten bei der Ausreise aus Nazideutschland half. Gerade rechtzeitig, denn mit der »Vierten Verordnung zum Reichsbürgergesetz« vom 25. Juli 1938 wurden die Approbationen aller jüdischen Ärzte mit dem 30. September für »erloschen« erklärt. Am 14. März 1939 verließ Ludwig Guttmann mit seiner Frau und den beiden Kindern Deutschland »ohne einen Pfennig!«, wie sich seine Tochter Eva erinnert. Er fand eine Anstellung als Neurologe in Oxford und machte mit seiner Kritik an der traditionellen Behandlung von Paraplegikern und Tetraplegikern in England bald auf sich aufmerksam.
reha-klinik Ende 1943 wurde Guttmann gefragt, ob er bereit sei, eine Klinik für Querschnittsgelähmte aufzubauen, deren Zahl durch den Krieg täglich anstieg. Er willigte ein, jedoch unter der Bedingung, dass er die Behandlung in seiner Form durchführen dürfe. Die britische Regierung akzeptierte, und am 1. Februar 1944 wurde das National Spinal Injuries Centre, das Nationale Zentrum für Wirbelsäulenverletzungen im Stoke Mandeville-Hospital in Aylesbury in der Grafschaft Buckinghamshire eröffnet.
»Als ich zum ersten Mal nach Stoke kam, galten die Patienten mit Rückenmarksverletzungen als hoffnungslose Krüppel. Ich akzeptierte diese defätistische Haltung nicht«, erinnerte sich Ludwig Guttmann später. »Meine Philosophie war, dass diese Komplikationen nicht nur kontrolliert, sondern auch ganz vermieden werden können.« Er ließ die mobilen Raumteiler entfernen, hinter denen die bewegungsunfähigen Patienten mehr oder minder sich selbst überlassen waren. Sie sollten wieder Lebensmut gewinnen: »Schwer Gelähmte verlieren das Selbstvertrauen, ihre geistige Aktivität und ihre Würde. Sie kapseln sich ab und werden unsozial.«
teamarbeit Als Klinikleiter in England entwickelte Guttmann bis heute gängige Behandlungsmethoden für Querschnittsgelähmte. Er wollte, dass die Verletzten so schnell wie möglich wieder ein ganz normales Leben führen könnten. Teamwork war dabei seine Devise. Bis dahin hatten Ärzte, Physiotherapeuten und Krankenschwestern getrennt »ihren Job am Patienten« gemacht. Jetzt arbeiteten sie gemeinsam »mit dem Patienten«. »›Poppa‹ hat die Aufteilung in Krankenpfleger und Physiotherapeuten aufgehoben und sie zu einem Team gemacht«, beschrieb später einer seiner Mitarbeiter der ersten Stunde die Leistung Guttmanns.
Vor allem auf körperliche Aktivitäten seiner Patienten legte Guttman Wert. Muskelaufbautraining für Rollstuhlsitzer sollte nicht nur deren physische Fitness , sondern auch ihren psychischen Zustand verbessern. Darts, Bogenschießen, Snookerbillard und Tischtennis wurden als Teil der Reha-Therapie eingesetzt. »Wir waren so beschäftigt an diesem verfluchten Ort«, beschreibt ein ehemaliger Patient, »dass wir keine Zeit hatten, krank zu sein«.
Die Behandlungsmethode Guttmanns, nach dem in Deutschland heute zwei Straßen, eine Schule und Sportzentren benannt sind, lernte auch der Unternehmer Manfred Sauer kennen. Ein verunglückter Kopfsprung in die Themse machte den jungen Deutschen bei einem Studienaufenthalt in England zum Tetraplegiker. »Ich bin, glaube ich, der einzige Deutsche, der seine Erstrehabilitation im Stoke Mandeville-Hospital erhalten hat. Das war für mich 1963 Glück im Unglück«, sagte Sauer bei der Einweihung der Ludwig-Guttmann-Halle in Heidelberg im vergangenen Oktober. »Stoke war, so wie ich es erlebt habe, eine gute Diktatur.
Konkurrenz Das Diktat der Notwendigkeit aus fundiertem Wissen, Verantwortungsbewusstsein und Überzeugung.« Ludwig Guttmann war streng, erinnert sich Sauer. »Wenn die Strenge Methode hatte, dann war es ein wohlüberlegtes Mittel, mit Autorität effizient eine Lebensumstellung einzupauken.«
wettstreit Dazu gehörte auch, dass Sport in der Rehabilitation nicht bloßes Spiel sein sollte. Bewusst setzte Ludwig Guttmann auf das Element der Konkurrenz wie in der »richtigen« Athletik. Am 28. Juli 1948 fanden in Aylesbury die ersten »Stoke Mandeville Games« statt.
14 im Rollstuhl sitzende Männer und zwei Frauen, ehemalige Soldatinnen und Soldaten der britischen Armee, beteiligten sich an diesem ersten offiziellen sportlichen Wettstreit von Behinderten. Am selben Tag begannen in London die XIV. Olympischen Sommerspiele. Mit Absicht hatte Guttmann dieses Datum ausgesucht, um seinen Behindertensport bekannt zu machen. »Das Ziel ist es, gelähmte Männer und Frauen aus allen Teilen der Welt in einem internationalen Sportbewegung zu vereinen und durch den Geist wahrer Sportlichkeit Tausenden von gelähmten Menschen Hoffnung und Inspiration zu geben.«
Aus den nationalen »Stoke Mandeville Games« entstanden die internationalen Paralympics. 1960 kamen bereits 400 gelähmte Sportlerinnen und Sportler aus 23 Nationen nach Rom, um sich im Anschluss an die Olympischen Spiele zu messen. Bei den Paralympischen Spielen in London, die diese Woche begonnen haben, geht die Zahl der Teilnehmer aus aller Welt inzwischen in die Tausende. Ludwig Guttmann, der Begründer des Wettstreits, wurde 1966 von Königin Elizabeth II. zum Ritter geschlagen. Am 18. März 1980 starb er an den Folgen eines Herzinfarktes. An seinem Wirkungsort in Stoke Mandeville erinnert seit Juli eine Statue an ihn.