Politik

»Polizei und Justiz müssten viel mehr tun«

Ronen Steinke über Rechtsterrorismus, fehlenden Elan der Behörden und Antisemitismus seit 1945

von Katharina Schmidt-Hirschfelder  12.07.2020 13:23 Uhr

Ronen Steinke Foto: Peter von Felbert

Ronen Steinke über Rechtsterrorismus, fehlenden Elan der Behörden und Antisemitismus seit 1945

von Katharina Schmidt-Hirschfelder  12.07.2020 13:23 Uhr

Herr Steinke, dieser Tage erscheint Ihr neues Buch »Terror gegen Juden«. Es trägt den Zusatz »eine Anklage«. Wen klagen Sie an?
Es geht um die Versäumnisse des Rechtsstaates, dem Terror entgegenzutreten. Es ist zu billig zu sagen: »Antisemitismus hat es immer gegeben, Antisemitismus ist eine soziologische Konstante, dagegen kann auch der beste Rechtsstaat nichts tun, der Staat bemüht sich ja.« Nein, eben nicht. Genau darauf will ich mit dieser Recherche hinweisen. Die Polizei tut nicht alles, was sie kann. Sie könnte und müsste viel mehr tun. Dasselbe gilt für die Justiz.

Wie kommen Sie zu diesem Schluss?
Je genauer man sich die Urteile der letzten Jahrzehnte zu antisemitischen Gewalttaten anschaut, und je mehr man sich in Ermittlungsakten und Polizeientscheidungen vertieft, desto erstaunlicher ist es, zu sehen, mit wie wenig Elan und Entschlossenheit das Thema angegangen wurde.

Ist das heute anders? Oder hat die Realität Sie beim Schreiben des Buches eingeholt?
Die Vorfälle des vergangenen Jahres haben die Zustände, die ich aufdecke und versuche zu beschreiben, eher noch bestätigt.

Sie meinen konkret den Anschlag auf die Synagoge in Halle im Oktober 2019?
Ja. Halle ist ein Beispiel dafür, wie in Deutschland, in Ostdeutschland, in einer Stadt, die als Hochburg der Neuen Rechten gilt – der Identitären Bewegung –, Juden nicht geschützt wurden. Es stand weder Polizeischutz vor der Tür, noch hat der Staat einen einzigen Euro für die Gebäudesicherheit der Synagoge ausgegeben. Da wird gesagt: »Naja, die Gemeinde hat das vielleicht nicht beantragt…« Aber es ist Aufgabe des Staates und nicht der Betroffenen, für Schutz zu sorgen – weil dieser Schutz leider notwendig ist in Deutschland. Insofern ist es bittere Ironie, dass der Täter annahm, die Synagoge habe kugelsichere Fenster. In seinem Manifest hatte er geschrieben, die Bundesrepublik gebe Unsummen für die Sicherheit von Synagogen aus. Hätte er geahnt, dass kein einziger Euro aus Steuermitteln jemals in dieses Gebäude geflossen ist, wären seinem versuchten Massaker womöglich mehr Menschen zum Opfer gefallen.

Halle ist nicht etwa ein Einzelfall, sondern der vorläufige Gipfel antisemitisch motivierter Straftaten. Das machen Sie bereits im ersten Kapitel klar. Nimmt der Staat die Bedrohung gegen Juden nicht ernst genug?
Ich glaube, der Staat nimmt die Gefahr absolut nicht ernst genug. Anders kann man sich nicht erklären, dass er einerseits Fachleute vom Landeskriminalamt zu den Synagogen schickt und diese mit Klemmbrett unterm Arm ein Gutachten erstellen lässt. Oft kommen sie zu dem Ergebnis, wie groß die Gefahr ist. Derselbe Staat zieht dann aber andererseits nicht die Konsequenzen und schickt Beamte zum Schutz dorthin. Das bestreiten die Gemeinden meist aus eigener Tasche, zum Teil mit bis zu 50 Prozent ihres Budgets. So war es in Sachsen-Anhalt in Halle, aber auch in anderen Gemeinden. Dabei hatten Landeskriminalämter die Gefahr bereits schriftlich benannt, doch das Innenministerium ließ die Gemeinden bitten – so ist der Ablauf in Deutschland. Damit sind die Gemeinden erst einmal in der Pflicht, sehr komplizierte Anträge auszufüllen. Wenn diese nicht die bürokratischen Hürden nehmen, dann haben sie Pech gehabt. Nähme der Staat die Gefahr wirklich ernst, würde das anders ablaufen.

Inwiefern reiht sich dieser Umgang der Behörden mit der Bedrohung durch Antisemitismus in die Entwicklung seit 1945 ein? »Der Terror war nie weg«, schreiben Sie und listen eine erschreckende Chronik antisemitischer Gewalttaten auf: Seit Ende des Zweiten Weltkrieges verging kein einziges Jahr ohne Beleidigungen, Friedhofsschändungen, Bombenanschläge, Schmierereien, Bedrohungen, Sprengsätze, Morde.
Es entsteht oft der Eindruck, man rede über einzelne Fälle. Aber diese Dichte? Die war mir so vorher auch nicht klar. Die Schlagzahl nimmt mit den Jahrzehnten zu. In den 90er-Jahren etwas schneller, in den vergangenen Jahrzehnten haben wir die absolute Hochphase erreicht. Wenn man alles zusammen nimmt, alle Puzzlestücke, alle einzelnen Chroniken zusammenfügt, dann wird klar, was für ein Dauerfeuer das eigentlich ist. Das reicht von Brandanschlägen in den 50er-Jahren bis zum Mord am ehemaligen Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde Erlangen 1980 – einer der krassesten Fälle von Demütigung und Kriminalisierung des Opfers.

Was war damals passiert?
Kurz nach Kabbalat Schabbat stand vor seiner Tür ein Neonazi, schoss ihn mit vier Schüssen nieder, eine ganz kurze, hinrichtungsartige Tat. Als die Polizei anrückte und den Tatort sicherte, suchte sie erst einmal nicht in der Neonazi-Szene – und das, obwohl diese sehr groß und vor allem in der Gegend sehr aktiv war, sondern sie verdächtigte monate- und wochenlang die jüdische Gemeinde. Die Beamten stellten die These auf, das Opfer sei ein Mossad-Agent gewesen, der Täter womöglich ein Araber, also eine Tat »unter Fremden«. Die Lokalzeitung verbreitete, das Opfer habe eine schillernde Vergangenheit gehabt und legte damit nahe, er habe es sich selbst eingebrockt. Das wurde von der Staatsanwaltschaft über die Presse verbreitet. Das führte natürlich zu einer Verunsicherung und Entfremdung von staatlichen Stellen und einer unglaublichen Verletzung. Wer sich da an das Beispiel vom NSU erinnert fühlt, dem geht es genauso wie mir.

Der NSU-Prozess ist gerade einmal zwei Jahre her. Warum brauchte es so lange, bis die Behörden Rechtsterrorismus ins Visier nahmen?
Zum einen richtete sich der Terror von rechts bislang nicht gegen Vertreter des Staates oder gesellschaftlich mächtige Gruppen. Das unterscheidet ihn vom Linksterrorismus. Da war der Staat sehr schnell dabei, das Wort »Terror« zu verwenden. Bei rechter Gewalt, die sich gegen Außenseiter, schwache Gruppen der Gesellschaft richtet, hat es immer sehr viel länger gedauert. Zudem ist die antisemitische Gewalt eine Form der Gewalt, die immer mit edlen Begründungen daherkommt. Juden werden wahlweise verantwortlich gemacht für den Kapitalismus oder den Kommunismus und jetzt dafür, dass es Muslimen in aller Welt schlecht geht. Und offenbar beeindruckt dieses Argument manche Richter so sehr, dass sie die Straftäter milder belangen. Gleichzeitig werden Juden dafür verantwortlich gemacht, dass sie angeblich heimlich im Hintergrund die Migrationsströme lenken und Muslime in großer Zahl nach Europa hineinlotsen.

Diesen Topos benutzt auch die Neue Rechte mit Vorliebe.
Genau. Das ist der zentrale Topos der Zeit – er war sowohl für den Täter in Halle das Legitimationsnarrativ als auch bei den antisemitischen Attentaten in El Paso und in Pittsburgh. Und letztlich auch in Christchurch – auch bei dem Anschlag auf Muslime wurden Juden so dargestellt, als ob sie mit allen im Bunde stehen: Schwarzen, Muslimen, Ausländern – dem Fremden schlechthin – und dafür verantwortlich gemacht, die Vorstellung von einem reinen, weißen Land zu verunreinigen. Diese Rolle wird Juden gerade zugeschrieben.

Wenn Täter dann noch das Gefühl haben, dass Taten nicht verfolgt werden, dass auf Taten Straflosigkeit folgt, dann ermuntert sie das natürlich.
Alles, was bei der Polizei schiefläuft, auch, dass Taten von vornherein nicht angezeigt werden, führt dazu, dass Täter ermutigt werden. Wenn dann Urteile wie in Wuppertal 2014 hinzukommen nach dem Brandanschlag auf die Synagoge, wo der Richter feststellte, der Anschlag sei nicht antisemitisch, weil die Täter einen palästinensischen Hintergrund hatten und die Tat damit ein legitimes Statement zum Nahostkonflikt sei, dann braucht man sich nicht zu wundern, wenn andere sich bestärkt fühlen. Die Justiz sollte niemals die Argumentation antisemitischer Täter übernehmen und adeln, indem sie ein außenpolitisches Argument wie den Nahostkonflikt gelten lässt.

Die bundesrepublikanischen Ermittlungsbehörden verschlossen lange ihre Augen vor der antisemitischen Wirklichkeit und ließen die dringend notwendige Aufklärung der Nazivergangenheit – auch ihrer eigenen Behörden – schleifen; selten wurden NS-Täter angeklagt. Rächt sich das heute?

Da gibt es auf jeden Fall einen Zusammenhang. Diese schleppende Aufklärung hat nicht gerade eine Grundlage gelegt für das Vertrauen von Jüdinnen und Juden in staatliche Behörden. In den 50er-Jahren hatten Juden immer die Hemmschwelle, bei der Polizei oder Justiz auf Leute zu treffen, die bereits dokumentiert hatten, wie egal ihnen Juden sind – eben weil sie gezeigt haben, dass ihnen viel größere Verbrechen an Juden nicht wichtig sind. Die Folge: Man hat sich viel zu selten an die Justiz gewandt. Das ist natürlich bequem für die Justiz. Das ist auch heute noch arbeitsersparend, dass so selten Strafanzeige erstattet wird. Laut Kriminologen wird nur jede fünfte antisemitische Straftat angezeigt. Aber das ist natürlich nicht die Schuld der Betroffenen, sondern ein Versagen der Behörden.

Was hindert Juden daran, antisemitische Vorfälle anzuzeigen?
Wird man als Jude Opfer eines Anschlags und will das anzeigen, fragt man sich: Wird mein Problem dadurch kleiner oder größer? Zu oft ist die – leider begründete – Erwartung: Wenn ich zur Polizei gehe, habe ich ein Problem mehr. Da werde ich abgewimmelt, nicht ernst genommen, meine Geschichte wird ins Lächerliche gezogen. Da gibt es haarsträubende Beispiele. Das ist eine schlimme Erfahrung, die zu der eigentlichen schlimmen Erfahrung hinzukommt. Darüber hinaus besteht die Sorge: Wird meine Adresse womöglich in Akten auftauchen? Können das dann die Täter lesen? Dann bin ich erst recht in Gefahr. Die Polizei muss von sich aus dafür sorgen, dass klar ist, dass man ernst genommen und respektvoll behandelt wird – genauso wie jemand, der einen Überfall auf einen Juwelier anzeigt.

Wie kann das Vertrauen in den Staat und die Behörden wiederhergestellt werden?
Da stehen wir ganz am Anfang. Die Justiz muss mit Taten überzeugen, dass sie die antisemitische Bedrohung ernstnimmt und nicht kleinredet oder den Nahostkonflikt vorschiebt, und zwar mit konsequenten Anklagen und rechtsstaatlich sauberen Urteilen. Bei Hassverbrechen muss die Justiz ebenso hart reagieren wie bei Eigentumsdelikten. Die Begründung, angegriffen worden zu sein, weil man Jude ist, verletzt noch viel mehr als die Begründung, man habe dem Opfer zehn Euro abnehmen wollen. Bei Letzterer schnellt die Strafe sofort auf ein Jahr Mindeststrafe hoch, beim Hassdelikt nicht. Diese Wertung muss die Strafgesetzgebung geraderücken. Ähnlich bei Polizeibehörden – das Dienstrecht schützt Beamte, auch wenn sie sich rassistisch und NS-verherrlichend äußern. Das muss sich ändern.

Kann man sich als Jude in Deutschland überhaupt sicher fühlen?
Nein. Man bringt die Kinder in die Schule und geht an bewaffneten Sicherheitskräften vorbei – weil die Gefährdungsanalyse der Landeskriminalämter dementsprechend ist. Das ist der Status quo, den uns die Fachleute von der Polizei attestieren.

Antisemiten und Israelhasser lassen sich schwerlich von Fakten beeindrucken, wer aufklärungsresistent ist, bleibt es auch. Wo müssen Staat und Gesellschaft ansetzen?
Antisemitismus ist etwas, was das Leben leichter macht für Antisemiten – viele komplizierte Gedanken lösen sich in Wohlgefallen auf, man hat einen klaren Gegner, man wertet sich selbst auf. Alles Verwirrende, Unangenehme kann man den Fremden zuschieben. Die Hoffnung, dass man mit Fakten und Aufklärung dagegen ankommt, halte ich für naiv. Da muss erst einmal die Motivation da sein, dass sich ein Antisemit dieses Wohlgefühl wegnehmen lässt. Die sehe ich nicht. Was dagegen hilft, ist Begegnung – dass man reale Juden kennenlernt.

Welche Impulse wollen Sie mit dem Buch geben?
Ich hoffe, dass das, was ich mit dem Buch versuche zu zeigen, einen wütend und aktiv macht. Ich hoffe auch, dass die Vertreter des Staates, auch in der Justiz, sich ertappt fühlen. Denn Ausreden – auch aus meiner Sicht als Jurist – gibt es nicht. Man darf sich nicht einreden, dass das normal ist, nur weil wir Juden das seit Jahrzehnten so erleben. Diese Zustände gehören abgestellt. Dafür muss man sich stark machen. Dass man durchaus Dinge ändern kann, zeigt das Beispiel Berlin: Die Stadt verfolgt die meisten homophoben Straftaten in Deutschland – viermal so viel wie andere Städte. Das liegt nicht etwa daran, dass in Berlin viermal so viele homophobe Straftäter unterwegs sind, sondern daran, dass Justiz und Polizei sich in den 90er-Jahren bewusst entschieden haben, hier ganz sensibel hinzuschauen, geschulte Beamte einsetzen, die sehr respektvoll und zuhörend mit der Community umgehen. Und das wirkt. Und es ist auch nicht zu viel verlangt. Das heißt einfach nur, dass man Leute aus marginalisierten Gruppen genauso behandelt wie den Bankdirektor, der einen Bankraub anzeigt.

Mit dem Autor sprach Katharina Schmidt-Hirschfelder.

Ronen Steinke: Terror gegen Juden. Wie antisemitische Gewalt erstarkt und der Staat versagt. Eine Anklage, Berlin 2020, Piper Verlag, 18 Euro.

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