Justiz

Polens Würde vor Gericht

Die obersten Richter der Europäischen Union müssen darüber entscheiden, ob ein polnisches NS-Opfer durch eine Aussage in einer deutschen Zeitung in seinen Persönlichkeitsrechten verletzt wurde. Foto: imago images / Patrick Scheiber

2017 erschien in der Online-Ausgabe der in Regensburg erscheinenden »Mittelbayerischen Zeitung« ein Artikel über den Schoa-Überlebenden Israel Offman. Darin war zunächst vom »polnischen Vernichtungslager Treblinka« die Rede. Rund neun Stunden nach der Veröffentlichung korrigierte die Redaktion diese Passage und stellte klar, dass es sich bei Treblinka um ein »deutsches nationalsozialistisches Vernichtungslager im besetzten Polen« gehandelt habe.

ZIVILKLAGE In Polen schlug die Affäre dennoch wenige Tage später hohe Wellen. Der stellvertretende polnische Konsul in Deutschland, Robert Zadura, betonte, ähnliche Falschdarstellungen seien zuvor bereits mehrfach in deutschen Medien aufgetaucht.

Kurze Zeit später strengte ein ehemaliger polnischer Insasse des deutschen NS-Todeslagers Auschwitz-Birkenau eine Zivilklage gegen den Mittelbayerischen Verlag vor einem Warschauer Gericht an. Darin machte er die angebliche Verletzung seiner Persönlichkeitsrechte als NS-Opfer geltend.

Zudem sah er durch die Aussage in dem Artikel auch die »nationale Würde« Polens in Mitleidenschaft gezogen. Neben 50.000 Zloty (rund 11.000 Euro) Schadenersatz verlangte der Mann auch die Veröffentlichung einer Entschuldigung der Zeitung sowie eine Unterlassungserklärung seitens des Mittelbayerischen Verlags.

Letzterer bestritt energisch die Zuständigkeit der Justiz in Polen in dieser Angelegenheit und vertrat die Ansicht, die Gerichte dort seien auch deshalb nicht kompetent, den Fall zu verhandeln, weil der betreffende Artikel den Kläger namentlich gar nicht genannt habe. Außerdem sei der Artikel gar nicht auf Polnisch erschienen.

ZUSTÄNDIGKEIT In erster Instanz wurde dem Beschwerdeführer aber Recht gegeben. Zur Begründung führte das Gericht die hohen Klickzahlen aus Polen auf der Webseite der Mittelbayerischen an. In Anbetracht der Verfügbarkeit der Veröffentlichung in Polen und angesichts ihres Inhalts könne Polen deshalb als der Ort angesehen werden, an dem Persönlichkeitsrechte verletzt worden sein könnten.

Auf Antrag des Regensburger Verlags nahm sich daraufhin ein Warschauer Berufungsgericht des Falls an und legte dem Europäischen Gerichtshof die Frage zur Entscheidung vor, ob eine EU-Verordnung aus dem Jahr 2012 hinsichtlich der gerichtlichen Zuständigkeit in Zivil- und Handelssachen eine Zuständigkeit von Gerichten auch dann begründen könne, wenn der fragliche Inhalt die klagende Person gar nicht nenne beziehungsweise sie nicht unmittelbar in ihren Persönlichkeitsrechten angreife.

Zudem wollte das Gericht von den Europarichtern wissen, inwiefern dabei besondere Umstände wie der Empfängerkreis, an den sich die fragliche Website richte, die Sprache, in der die Veröffentlichung erfolgte, der Zeitraum, in dem das streitige Material öffentlich zugänglich war, sowie die in der Klage genannten persönlichen Hintergründe des Klägers (Kriegsschicksal und jetzige gesellschaftliche Tätigkeit) für die Ermittlung der Zuständigkeit relevant seien.

In seinem am Dienstag veröffentlichten Schlussgutachten machte EuGH-Generalanwalt Michal Bobek deutlich, dass ein nationales Gericht seine Zuständigkeit für eine Rechtssache nach der EU-Verordnung daran ermessen könne, ob eine »enge Verbindung zwischen diesem Gericht und der streitigen Handlung« bestehe.

ENGE VERBINDUNG Ferner, schlug Bobek den Richtern des EuGH vor, müsse die EU-Verordnung dahingehend ausgelegt werden, dass die Begründung der Zuständigkeit eines Gerichts nicht unbedingt erfordere, dass der schädigende Online-Inhalt eine bestimmte Person ausdrücklich beim Namen nenne. Mit anderen Worten: Auch namentlich nicht genannte Personen können sich nach Auffassung des Generalanwalts gegen hetzerische Inhalte oder Falschaussagen im Internet juristisch zur Wehr setzen.

Allerdings müsse das Gericht prüfen, ob »eine enge Verbindung« bestehe zwischen Gerichtsstand und dem angegriffenen Sachverhalt selbst. Das sei notwendig, »um eine ordnungsgemäße Rechtspflege zu gewährleisten.«

Das bedeute auch nicht, dass bei »potenziellen Verletzungen von Persönlichkeitsrechten durch Internetveröffentlichungen« in Bezug auf das anwendbare EU Recht »alles geht«, so Bobek. Im Kontext von Online-Veröffentlichungen müsse das polnische Gericht daher bei seiner Würdigung des Falls sicherstellen, dass »ein angemessenes Maß an Vorhersehbarkeit des potenziellen Gerichtsstands in Bezug auf den Ort besteht, an dem der aus diesem Material resultierende Schaden auftreten« könne, führte der Generalanwalt aus.

Die polnischen Gerichte müssten »daher prüfen, dass die Anwendung des nationalen Rechts über Verleumdung nicht dazu führt, dass der Beklagte strengeren Regeln unterliegt als den am Ort seiner Niederlassung geltenden (im vorliegenden Fall Deutschland)«.

KRITIK In der Begründung seines Gutachtens ließ der Generalanwalt scharfe Kritik an der Hinwendung Polens zu einer zusehends »nationalistischen« Auslegung seiner Gesetze erkennen. Zwar gebe es in den EU-Mitgliedstaaten schon immer Unterschiede in diesen Fragen.« Das »bestimmende Element der Persönlichkeitsrechte«, so Bobek weiter, sei, »dass sie in der Tat persönlich sind: Sie sind individuell, kontextuell, im Hinblick auf eine bestimmte Person und ihre Würde zu beurteilen.«

Das im Ausgangsverfahren angewandte polnische Recht verändere dagegen das »gemeinsame Verständnis« des Rechts durch eine »Fiktion«: Die Persönlichkeit eines polnischen Staatsangehörigen bestehe dieser Interpretation zufolge »aus seiner nationalen Identität, seiner nationalen Würde oder seinem Recht auf Respektierung der Wahrheit über die Geschichte der polnischen Nation.« Offenbar, folgerte der Generalanwalt, sei in dieser Rechtsauffassung »die Zugehörigkeit zu einer Nation« wichtiger als das Individuum.

WIDERSPRUCH Ferner müsse die Entscheidung des polnischen Gerichts von dem EU-Mitgliedstaat anerkannt werden, in dem der Beklagte ansässig sei. Letzterer könne dann argumentieren, »dass die Anerkennung der öffentlichen Ordnung des betreffenden Mitgliedsstaats« in offenkundigem Widerspruch zur EU-Verordnung stehe.

»In einer solchen Situation«, folgerte Bobek in Bezug auf den konkreten Fall, »wäre es nach meiner Auffassung durchaus nachvollziehbar, wenn ein Gericht des ersuchten Mitgliedstaats die Anerkennung der Entscheidung versagte.« Das anwendbare polnische Recht (beziehungsweise die Rechtsprechung polnischer Gerichte) weiche »wesentlich von dem ab, was man als Teil des gemeinsamen europäischen Verständnisses von Persönlichkeitsrechten ansehen kann.«

Ein endgültiges Urteil der obersten Richter der EU in Luxemburg wird erst in einigen Monaten erwartet. An die Auffassung des Schlussgutachtens des Generalanwalts sind sie nicht gebunden, folgen ihr aber häufig.

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