»Scheiße, da steht einer!« Daniel tritt aufs Gaspedal. »Das ist Rainer, ein ehemaliger Kamerad, ein Schläger!« Seine Stimme bebt. Daniel schaut in den Rückspiegel, dann in die Seitenspiegel. »Hat der mich gesehen? Das wäre schlimm, wegen des Nummernschildes.« Plötzlich ist Daniels mühsam abgelegte Vergangenheit wieder nahe.
Drei Straßen weiter, mitten in Berlin-Niederschöneweide, hält er. Der 35-Jährige hat den Reißverschluss seiner Kapuzenjacke bis oben hin zugezogen, die Wollmütze tief im Gesicht. Er atmet laut durch den Mund aus und erzählt: »Rainer war ein guter Freund von mir. Wenn’s Ärger gab, konnte ich mich auf ihn verlassen.« Heute fürchtet sich Daniel vor Rainer.
15 Jahre lang war Daniel Neonazi. Er sammelte Gelder, gründete eine »Kameradschaft«, organisierte Kundgebungen, und schlug zu. Öfter. Doch irgendwann wurden die Widersprüche zwischen der verordneten Ideologie und dem tatsächlichen Handeln zu groß. Er stieg aus. Vier Jahre sind seitdem vergangen, und heute ist er das erste Mal wieder in Niederschöneweide.
rechtsrock Daniel wächst in einem hessischen Dorf, 30 Kilometer von Darmstadt entfernt, auf. Seinen Vater lernt er nie kennen, die Mutter möchte den Jungen möglichst antiautoritär erziehen. Doch Daniel sucht nach einer starken Hand im Leben und findet sie bei seinem Großvater: »Während andere Hänsel und Gretel vorgelesen bekommen haben, hat mir mein Großvater Wehrmachtsgeschichten erzählt.«
In der achten Klasse fängt Daniel im Geschichtsunterricht an, das Dritte Reich und damit seinen Opa zu verteidigen. Er provoziert die Lehrerin, stellt den Holocaust und die deutsche Schuld infrage. »Ich habe mich schon als Kind in der Opferrolle gesehen: Ich stell’ hier Fragen in der Schule und werde bestraft.« In seiner Freizeit trägt er fortan eine Lederjacke mit einem »Deutschland den Deutschen«-Aufnäher. Jedes Wochenende steht er im Fanblock des lokalen Fußballvereins und brüllt Parolen wie »Sieg Heil«, »Jude« und »schwule Sau«. Die neuen Freunde nehmen ihn mit auf Konzerte der Bands »Böhse Onkelz«, »Störkraft« und »Endstufe«. Dort tanzt er zu Liedtexten wie: »Ich warte auf den Türken/ dem hau ich eine drauf./ Und wenn ich einmal dran bin,/dann tret ich auch noch rein/, ist ja nur ein Türke,/ein altes Kümmelschwein.«
basisarbeit Mit dem Zeigefinger deutet Daniel auf den S-Bahnhof Schöneweide. Arbeitslosigkeit, schwierige Lebensumstände, Frustration, das sind einige der Faktoren, die es Daniel und seinen Kameraden einfach machten, hier Mitte der 90er-Jahre Fuß zu fassen. Immer mehr Sympathisanten schließen sich ihnen an, gemeinsam machen sie Jagd auf Andersdenkende. »Wir haben einen echten ›Angstraum‹ geschaffen.« Für Linke und Ausländer wird dieser Teil von Treptow eine Tabuzone, aus Angst vor Daniel und den anderen Neonazis.
Daniel schildert, wie er hier eine neue Kameradschaft aufgebaut und eine »national befreite Zone« geschaffen hat: »Da drüben, im ›Johannisthal Stübl‹ oder in der ›Spreehexe‹, saßen immer Leute von uns. Dann kamen Jugendliche, haben uns angesprochen: Ey, hier muss endlich mal was passieren.« Daniel, der in seiner Jugend selbst immer nach Orientierung und einer starken Hand gesucht hat, wird schnell zur wichtigsten Bezugsperson der jungen Leute. Der Zulauf ist enorm. »Wir haben immer gesagt: Wer die Jugendlichen gewinnt, der bestimmt die Zukunft Deutschlands.«
Daniel und seine Kameraden helfen bei Hausaufgaben, besorgen jungen Müttern Wohnungen, spielen Fußball und fahren zum »Rudolf-Hess-Gedenktag« nach Wunsiedel. Doch auch auf den Straßenkampf bereiten sie ihre neuen Schützlinge vor. Mit Propagandaplakaten und Walkie-Talkies schwärmen die Jugendlichen nachts aus und bekleben die Häuser im Kiez mit rechten Parolen. Später kommt Kampfsporttraining dazu. Unterrichtet werden sie von Daniel, der selbst mehrmals schon zugeschlagen hat. So wie in Leipzig, wo er nach einer Kundgebung einen linken Gegendemonstranten in der Straßenbahn wiedererkennt. Sofort reißt er am Schalter der Notbremse. Die Bahn bleibt stehen, Daniel streift die schwarze Kapuze über, zieht seinen Teleskopstab. Nach wenigen Schlägen liegt das Opfer am Boden. Blut läuft aus der Nase und dem Mund. Doch für Daniel »gehört der Feind vernichtet«, also tritt er nochmal zu. Das Opfer überlebt schwerverletzt.
kader Im Auto geht es weiter nach Rudow. Daniel zeigt Orte, an denen »Aktionen« stattfanden, und Kneipen, die auch heute noch den Neonazis als Stützpunkt dienen. »Das ›Ostburger Eck‹ in der Waltersdorfer Chaussee hat ein Hinterzimmer, wo wir uns alle zwei Wochen getroffen haben. Wir haben uns dann über unsere Gegner ausgetauscht, Aufmärsche organisiert.«
Nicht nur regional finden solche Treffen statt. Die »Systemgegner« mieten regelmäßig Hotels in allen Regionen Deutschlands und beraten dort Strategien. Die Tagungen dauern mehrere Tage, statt Rechtsrock und Saufgelage herrschen Disziplin, Rauch- und Alkoholverbot. 30.000 »rechtsextremistische Personen« zählte der Verfassungsschutz im letzten Jahr. Daniel sagt, dass es in Wahrheit viel mehr sind.
Als Führungskader kümmert sich Daniel um die Vernetzung der Kameradschaften in Berlin und Brandenburg. Er fährt quer durch Deutschland, später auch nach Österreich, und sammelt Spenden. von älteren Gesinnungsgenossen, die selbst nicht mehr aktiv sein können. Irgendwann wird die Kameradschaft vom Verfassungsschutz unterwandert. Was mit dem V-Mann geschehen wäre, wenn Daniel Bescheid gewusst hätte? »Der wäre vielleicht gelyncht worden. Das war ja schlimmster Verrat an den Kameraden.«
Daniel steuert das Auto in die Weitlingstraße, wo viele Protagonisten aus der NPD- und Kameradschaftsszene leben. Vor einem Laden steht eine Gruppe muskulöser Glatzköpfe. Viele Autos hier haben Schriftzüge auf der Heckscheibe wie »Terror«, »Krawallbrüder«, »Streetfighters«, alles in Runenschrift. Daniel kennt sich hier aus: »Da oben im zweiten Stock ist eine Nazi-WG. Da hängen Hakenkreuze an den Wänden, Mein Kampf steht im Regal, natürlich läuft Nazimusik.«
desillusionierung Daniels Ausstieg aus der Szene beginnt mit einem Schwerverletzten. Nach einer langen Disconacht ist Markus, einer von Daniels besten Freunden, auf dem Heimweg. Kurz vor seiner Wohnung stößt er auf einen Afrikaner, der ebenfalls nach Hause will. Daniels Freund beginnt zu pöbeln, schreit »Nigger« und »schwarze Sau«. Wenige Minuten später liegt der Afrikaner blutüberströmt auf der Straße. Es dauert sechs Monate, bis das Opfer wieder aus dem Koma erwacht.
Drei Tage nach der Tat klingelt Daniels Telefon. Es ist Markus, der mittlerweile von der Polizei verhaftet wurde und in Untersuchungshaft sitzt. Er bittet seinen Kameraden, zum Haus seiner Eltern zu fahren und ihm frische Kleidung zu besorgen. Daniel hatte Markus einige Jahre zuvor angeworben, politisiert und trainiert. Als Markus’ Mutter die Tür öffnet, sagt sie: »Du bist schuld daran, dass mein Sohn sein Leben ruiniert hat.« Daniel hat darauf keine Antwort. Das erste Mal fühlt er sich schuldig und hat ein schlechtes Gewissen: »Mir ging das furchtbar nahe.« Er fängt an, sich mit dem, was er in den vergangenen 15 Jahren getan und erreicht hat, auseinanderzusetzen. Mit Ende 20 hat er weder einen Schulabschluss noch eine Arbeitsstelle. »Ich hab’ mich dann im Spiegel angeguckt und gesehen: Mein Leben ist ein Nichts.«
Daniel beginnt, seine Freunde und ihr Verhalten mit anderen Augen zu sehen. Sie hetzen gegen Ausländer, fahren aber nach Polen ins Bordell. Sie verabscheuen »minderwertige Rassen«, trinken ihr Bier aber beim China-Imbiss. Sie propagieren die reine deutsche Familie, zahlen aber keinen Unterhalt für die eigenen Kinder: »Ich konnte da nicht weiter mitmachen.«
konfrontation Über das Internet sucht Daniel gezielt Kontakt zu Andersdenkenden und vertraut sich ihnen an. Den Kameraden erzählt er, dass er sich wegen seiner Vorstrafen zurückhalten muss und vorübergehend kürzer treten will. Doch irgendwann merken die, dass mit Daniel etwas nicht stimmt. Auf einem Weihnachtsmarkt steht er plötzlich fünf Skinheads gegenüber. »Die wollten wissen, was mit mir los ist. Ich hab’ geantwortet: Ich bin jetzt ein Mensch.« Ab diesem Moment gibt es für Daniel keinen Weg zurück. Er verlässt panisch seine Wohnung und zieht in ein Hotelzimmer. Jeden Tag muss er damit rechnen, dass ihn die alten Gefährten erwischen: »Plötzlich war ich der Verräter.«
Daniel wendet sich an ein Aussteigerprogramm für Neonazis. Er spricht mit Therapeuten und anderen Aussteigern, irgendwann wird ein Täter-Opfer-Gespräch organisiert. In einer Anwaltskanzlei tritt Daniel dem Mann gegenüber, den er vor Jahren in der Straßenbahn fast totgeschlagen hat. »Da ist ein unglaubliches Schamgefühl dabei, das kann man gar nicht beschreiben.« Zwei Stunden lang sprechen sie gemeinsam über das, was in der Nacht geschehen ist. Sein Verhalten von damals kann Daniel nicht erklären, er versteht sich selbst nicht mehr. Er entschuldigt sich für das, was er getan hat und am Ende reichen sich Täter und Opfer die Hand.
An einer Kreuzung beobachtet Daniel, wie zwei schwarze Jugendliche die Straße überqueren. »Früher hätte mich das provoziert.« Er zieht die schwarze Wollmütze ab und kratzt sich nachdenklich am Kopf. Daniel, der sich früher freiwillig den Kopf geschoren hat, sind die Haare ausgefallen. Er hat wieder eine Glatze.