Von systematischer Ausgrenzungspolitik sprach Co-Fraktionschef Tino Chrupalla. Seine Kollegin an der AfD-Fraktionsspitze, Alice Weidel, beklagte einen »Bruch der demokratischen Teilhabe, die uns als Bundestagsfraktion zusteht«. Zuvor hatte eine große Mehrheit im Innenausschuss des Bundestags gegen den AfD-Kandidaten Martin Hess gestimmt, den die Fraktion für den Vorsitz des Gremiums aufgestellt hatte.
Ausgerechnet im Innenausschuss ein AfD-Politiker als Vorsitzender? Bereits die pure Präsenz der teilweise als rechtsextrem eingestuften Partei in dem Gremium sehen viele Abgeordnete und Fachleute als problematisch an. Denn der Innenausschuss behandelt zentrale Fragen der inneren Sicherheit, gelangt so an sensible Informationen.
Die Bekämpfung des politisch rechten Extremismus habe eine besondere Priorität, betonte die neue Bundesinnenministerin Nancy Faeser im Sender »Phoenix«. Die SPD-Politikerin meint, Rechtsterrorismus und Rechtsextremismus stellten in der Bundesrepublik derzeit die größte Bedrohung dar. Tatsächlich ist die blutige Spur lang: Die NSU-Terrorserie, die rassistischen Anschläge von Hanau und München, der Mord eines Neonazis an dem CDU-Politiker Walter Lübcke, der antisemitische Terror von Halle – Rechtsextremisten haben in Deutschland zahlreiche Menschen getötet, verletzt und eingeschüchtert. Die Vernichtung der Feinde ist der Kern des Rechtsextremismus.
AGGRESSIONSPOTENZIAL Dazu kommt die Bedrohung durch Coronaleugner und »Querdenker« – als deren parlamentarischer Arm AfD-Funktionäre immer wieder auftreten. Erst am Wochenende traten Weidel und Chrupalla in Nürnberg bei einer Kundgebung gegen die Corona-Maßnahmen auf, bei der Neonazis mindestens einen Journalisten bedrängten. Ohnehin können Reporterinnen und Reporter fast nur noch mit Personenschützern von solchen Demonstrationen berichten, das Aggressionspotenzial ist beachtlich. Innenministerin Faeser betont dementsprechend, man habe die »Querdenker«- und Coronaleugner-Szene genau im Auge.
Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, kritisiert im Gespräch mit der Jüdischen Allgemeinen die AfD, die sich »inzwischen ausdrücklich zum Fürsprecher der Coronaleugner und Impfgegner« mache. Die Partei »unterstützt deren Demonstrationen, die sich immer stärker radikalisieren und bei denen es regelmäßig zu antisemitischen Vorfällen kommt. In meinen Augen ist die AfD nicht nur verantwortungslos, sondern antidemokratisch. Das haben auch jüngst die Äußerungen in einer Chatgruppe der bayerischen AfD gezeigt. Es wird Zeit, dass die AfD insgesamt vom Verfassungsschutz beobachtet wird«, so Schuster.
Doch genau diese AfD soll sich im Innenausschuss mit dem Verfassungsschutz austauschen – was allerdings auch passiert, wenn die Fraktion das Gremium nicht leitet. Dennoch stand in Berlin die Frage im Raum, warum der AfD ausgerechnet in diesem Ausschuss das Vorschlagsrecht zufiel.
EUROPAAUSSCHUSS Dass der AfD überhaupt diese Möglichkeit gegeben wurde, sei »vor allem das Ergebnis davon, dass es den Grünen wichtiger war, Anton Hofreiter einen Posten zu geben, nachdem sie ihn bei der Kabinettsbildung öffentlich demontiert hatten«, kritisiert Martina Renner von der Linkspartei im Gespräch mit der Jüdischen Allgemeinen.
Hofreiter war als potenzieller Bundeslandwirtschaftsminister gehandelt worden, doch die Grünen setzten dann auf Cem Özdemir. Hofreiter leitet nun den Europaausschuss des Bundestags, für den sich die Grünen das Vorschlagsrecht sicherten – sie verzichteten dafür auf den Innenausschuss.
»Es wird Zeit, dass die AfD insgesamt vom Verfassungsschutz beobachtet wird.«
Zentralratspräsident Josef Schuster
Die Posten werden nach einem bestimmten Mechanismus vergeben: Die größte Fraktion darf sich zuerst ein Gremium aussuchen, es folgt die zweit- sowie drittgrößte – und so weiter. Die Grünen hätten den Innenausschuss besetzen können, entschieden sich aber eben für den Europaausschuss – so kam die AfD zum Zug.
»Das war keine Entscheidung gegen einen Ausschuss, sondern für einen anderen Ausschuss«, verteidigt Irene Mihalic, Parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen, diese Entscheidung. In der Wochenzeitung »Das Parlament« erklärte sie, die Grünen hätten »eine klare Priorität für den Europaausschuss, weil für uns Grüne gerade die europäische Einigung einfach ein sehr zentrales Element ist«.
Sie sei sich »sicher, in jeder anderen Konstellation wäre der Streit der gleiche gewesen. Auch in der letzten Wahlperiode gab es bei der Besetzung des Haushalts- und des Rechtsausschusses massive Bedenken, die sich im Rechtsausschuss dann ja auch bestätigt haben«.
Vor allem mit diesen schlechten Erfahrungen und der Radikalisierung der AfD wird die Entscheidung gegen alle drei Kandidaten begründet, die die Fraktion vorschlagen konnte – nämlich in den Ausschüssen für Inneres, Gesundheit sowie Entwicklungszusammenarbeit. Kommissarisch werden diese nun von den jeweils dienstältesten Abgeordneten geleitet.
AUTOMATISMUS Das Ergebnis der Abstimmungen kam wenig überraschend: Es gebe keinen Automatismus, dass ein Kandidat für den Vorsitz auch gewählt werde, hatte FDP-Fraktionschef Christian Dürr zuvor bereits angedeutet. Irene Mihalic von den Grünen sagte, selbstverständlich habe »die AfD das Recht, jemanden für einen Vorsitz vorzuschlagen, aber die anderen Parlamentarier haben genauso das Recht, ihre Wahlentscheidung zu treffen«.
Anfang des kommenden Jahres steht bereits die nächste sensible Entscheidung an, wenn die Posten im Parlamentarischen Kontrollgremium (PKGr) besetzt werden. Das Gremium soll die Arbeit der Geheimdienste überwachen – unter anderem den Verfassungsschutz. Die Abgeordneten tagen unter strenger Geheimhaltung. Die AfD will den pensionierten Bundeswehr-General Joachim Wundrak in das Gremium entsenden. Angesichts der Debatte über eine mögliche Beobachtung der gesamten AfD durch den Verfassungsschutz wird auch diese Abstimmung für viele Diskussionen sorgen.