Zwei Jahre nach dem Sturm auf das Reichstagsgebäude in Berlin warnt die Amadeu Antonio Stiftung Politik und Behörden davor, im Umgang mit der demokratiefeindlichen Protest-Szene Fehler aus der Corona-Pandemie zu wiederholen. Ereignisse wie am Reichstagsgebäude am 29. August 2020 könnten sich vor Landtagen, Rathäusern, Behörden oder Wohnhäusern von Politikern wiederholen, sagte Benjamin Winkler von der Amadeu Antonio Stiftung Sachsen am Freitag.
Eine neue Analyse der Stiftung kommt zu dem Ergebnis, dass die Demokratie-Feinde in Deutschland so selbstbewusst sind wie nie zuvor und mit ihrer Agenda auch mehr Menschen erreichen als je zuvor. Über zwei Jahre Dauerbeschallung mit Verschwörungsideologien, Antisemitismus und Desinformation hätten ein neues demokratiefeindliches Milieu entstehen lassen, das für immer neue Anlässe mobilisierbar bleibe.
»Lange konzentrierten sich Rechtsextreme auf ausgewählte Themen wie Einwanderung, heute wird unabhängig vom Thema gegen die Demokratie als solche mobilisiert», sagte Stiftungsgeschäftsführer Timo Reinfrank. Derzeit vollziehe sich der nahtlose Übergang zu Protesten in Sachen Energiekrise.
Während der Pandemie sei eine digitale Propagandamaschinerie gewachsen, die für jede kommende Krise mobilisiert werden könne, warnte die Monitoring-Expertin der Stiftung, Veronika Kracher. In einschlägigen Kanälen der sozialen Medien wie Telegram herrsche eine Atmosphäre «der permanenten Bedrohung, Empörung und Wut», die in Hass umschlagen.
Kracher kritisierte, dass der rechten Mobilisierung bislang nichts entgegengesetzt werde: «Der Hass hat sowohl online als auch offline kaum juristische Konsequenzen.» Aufrufe zu Straftaten müssten endlich breitflächig verfolgt werden. Hassakteure müssten «deplattformt» werden. «Es gibt genug Möglichkeiten, gegen Personen vorzugehen, die ohne jegliches Unrechtsbewusstsein zu Gewalttaten anstacheln und Mordaufrufe verbreiten», sagte Kracher.
Laut der Analyse sind die Protagonisten der Protest-Szene keine Unbekannten. Viele von ihnen seien durch die «Montagsmahnwachen» 2014 zum Beginn der Ukraine-Krise politisiert worden. Andere seien schon an den flüchtlingsfeindlichen Protesten ab 2013 und später bei Pegida beteiligt gewesen. Impfgegner und Verschwörungsgläubige mobilisierten zudem seit Jahren gegen Wissenschaft und evidenzbasierte Fakten. Die Stiftung schätzt, dass 30 Prozent der Bevölkerung einem latent demokratiefeindlichen Milieu zugehören. Bei zehn Prozent sei die Haltung verfestigt.
»Es gibt nach zweieinhalb Jahren keine Ausrede mehr, das Gefahrenpotenzial dieser Szene zu unterschätzen , sagte Geschäftsführer Reinfrank. Politik, Polizei und Justiz hätten immer wieder massive Rechtsverstöße toleriert. Das dadurch vermittelte Gefühl einer Unantastbarkeit und Selbstermächtigung, habe ein vermeintlich bürgerliches Spektrum ermutigt, sich den demokratiefeindlichen Protesten anzuschließen.
Auch beim Sturm auf das Reichstagsgebäude sei die Aufarbeitung bis heute verschleppt worden. Bislang seien lediglich 85 Verfahren eingeleitet worden, von denen 52 bereits eingestellt wurden, sagte Reinfrank.