In einer bewegenden Rede hat Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, am Mittwoch in der Gedenkstunde des Bundestags zur Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus, über die Verfolgungserfahrungen ihrer KIndheit gesprochen. Ihre Rede begann sie mit den Worten: »Ich stehe vor Ihnen als stolze Deutsche«.
FAMILIENGESCHICHTE Zweimal wurde Knobloch, die den Krieg versteckt in einem bayerischen Dorf überlebte, von Emotionen überwältigt – als sie über ihre Mutter und als sie über ihre Großmutter sprach. »Ich bin neun, als wir informiert werden: Ein Alten- und Kindertransport nach Theresienstadt. Großmutter oder ich müssen in den Zug. Meine starke Großmutter trifft augenblicklich die unmögliche Entscheidung. Früh am nächsten Tag wird Vater mich wegbringen – in erhoffte Sicherheit. Zuvor, der schwerste Moment meines Lebens: Großmutter sagt, sie gehe zur Kur und komme bald zurück. Ich weiß, was das bedeutet.«
Charlotte Knobloch, die sich nach dem Krieg entgegen ursprünglicher Auswanderungspläne entschied, in Deutschland zu bleiben, erklärte: »Ich hatte meine Heimat verloren. Ich habe für sie gekämpft. Ich habe sie wieder gewonnen. Und ich werde sie verteidigen! Ich stehe als stolze Deutsche vor Ihnen. Obwohl alles dagegensprach; und noch immer vieles dagegenspricht. Trauer, Schmerz, Verzweiflung und Einsamkeit be- gleiten mich. Aber ich weiß: Unser Land leistet viel, damit jüdische Menschen sicher sind – und hoffentlich nie wieder allein!«
POLIZEI Über ihre Erfahrungen in der NS-Zeit sagte die 88-Jährige unter anderem: »Ich wurde als Kind von Männern in deutscher Uniform bedrängt und geschlagen, weil ich den Aufenthaltsort meines Vaters nicht preisgeben wollte. Heute beschützen mich seit Jahren Beamte des Polizeipräsidiums München – mit ihrem Leben.« Ihre Rede wurde mehrmals von Beifall unterbrochen – zweimal an der Stelle, als sie sich »explizit nicht an die ganz rechte Seite des Plenums« wandte, wo die Abgeordneten der AfD sitzen.
»Ich kann nicht so tun, als kümmere es mich nicht, dass Sie hier sitzen«, sagte Knobloch. »Ich spreche Sie nicht pauschal an! Vielleicht ist die eine oder der andere noch bereit zu erkennen, an welche Tradition da angeknüpft wird. Zu den übrigen in Ihrer ›Bewegung‹: Sie werden weiter für Ihr Deutschland kämpfen. Und wir werden weiter für unser Deutschland kämpfen. Ich sage Ihnen: Sie haben Ihren Kampf vor 76 Jahren verloren!
Nach ihrer Rede standen die Abgeordneten auf, um zu applaudieren. Aus den Reihen der AfD blieben allerdings einige Abgeordnete sitzen, darunter Albrecht Glaser, der als erster AfD-Abgeordneter mit seiner Kandidatur für den Posten des Bundestagsvize gescheitert war.
ERÖFFNUNG Die Gedenkstunde wurde von Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble eröffnet, der vor neuen Formen von Rassismus und Antisemitismus in Deutschland warnte. »An Gedenktagen wird stets Verantwortung angemahnt, aber werden wir ihr auch gerecht? Auch bei uns zeigen sich Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit wieder offen, hemmungslos, auch gewaltbereit«, sagte der CDU-Politiker.
Nach Knobloch sprach die Publizistin Marina Weisband, die die Herausforderungen für die junge jüdische Generation in Deutschland in den Blick rückte. Weisband sagte, bald werde es keine Zeitzeugen der Schoah mehr geben. Es sei Aufgabe der Nachkommen, das Gedenken weiterzutragen und Lehren für eine Zukunft zu ziehen, in der die jüdische Kultur selbstverständlich gelebt werden könne. Anlass des Gedenktages ist die Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz am 27. Januar 1945.
TRAUMATA Die 33-jährige Publizistin und frühere Netzpolitikerin sagte, Jüdin in Deutschland zu sein, bedeute die Schoa in sich zu tragen und mit den Traumata der Eltern und Großeltern zu leben. Anders als ihre Eltern und Großeltern gehofft hatten, könnten Juden in Deutschland nicht einfach als Menschen wie andere leben. Zum Gebet gehe sie durch Sicherheitskontrollen, sagte Weisband. Sie sei dankbar für diesen Schutz: »Aber es macht was mit uns.«
Weisband wurde 1987 als Tochter jüdischer Eltern in Kiew geboren und kam 1994 mit ihrer Familie im Rahmen der Regelung für Kontingentflüchtlinge aus der Ukraine nach Deutschland. Sie engagierte sich zunächst bei der Piratenpartei und gehört seit 2018 den Grünen an.
MORDDROHUNGEN Antisemitismus beginne mit Verschwörungserzählungen, sagte Weisband und bilanzierte: »Wir können den Anfängen nicht wehren«. Sie bekomme längst Morddrohungen. Während sie eine Rede halte, würden anderswo Waffen gesammelt. »Umso schmerzhafter ist für mich diese Debatte um einen vermeintlichen Schlussstrich - solange wir keinen ziehen«, sagte Weisband unter Beifall.
Seit 25 Jahren erinnert der Bundestag rund um den 27. Januar mit einer Gedenkstunde an die Opfer der Nationalsozialisten. Der damalige Bundespräsident Roman Herzog hatte den Tag der Befreiung des NS-Konzentrationslagers Auschwitz (27. Januar 1945) im Jahr 1996 als Gedenktag proklamiert. In Auschwitz starben rund 1,1 Millionen Menschen. Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs wurden rund sechs Millionen Juden ermordet.
In diesem Jahr stand die Gedenkstunde im Zeichen des Jubiläumsjahrs zu 1700 Jahren jüdischen Lebens in Deutschland. Es erinnert an die erste erwähnte jüdische Gemeinde im Jahr 321 in Köln und soll verdeutlichen, wie lange das Judentum hierzulande heimisch ist. (mit dpa und epd)