Das »H« der weiß-blauen Leuchtbuchstaben des Lebensmittelmarkts »Hyper Cacher« hängt herunter, nur ein Kabel hält es. Scheiben sind von Schüssen durchsiebt.
Immer noch kommen Schaulustige zu dem koscheren Supermarkt an der Porte de Vincennes. Manche legen Blumen nieder, einige beten, andere zünden Kerzen an. Ein Mann macht ein Selfie. Der kalte Wind fährt in das Blumenmeer vor der Absperrung und lässt die Plastik-Einpackfolien rascheln.
auswandern Etwas weiter entfernt, an der Wand des Nachbargebäudes, lehnt Elon Cohen. Seine Augen sind vom Weinen gerötet. Cohens Cousin arbeitete in dem Supermarkt und starb als eines der vier Opfer des Anschlags. »Ich war nicht weit entfernt, als ich von der Geiselnahme erfahren habe«, sagt der 20-Jährige leise. Er kam schnell her, wartete vier Stunden auf der anderen Straßenseite und erlebte dann, wie die Polizisten den Markt stürmten. »Seither kann ich nicht mehr schlafen.«
In der Nacht wird der Leichnam seines Cousins nach Jerusalem ausgeflogen werden. Auch Elon Cohen wird am Donnerstag Frankreich verlassen, für immer. Häufig hat er an diesen Schritt gedacht, jetzt fiel die Entscheidung ganz schnell. »Alle Juden werden Frankreich verlassen«, sagt er und schluckt. Die Familie seiner Mutter hat ein Haus in Tel Aviv, dort wird er bald leben. In Paris hat er zuletzt die Schule beendet und war zeitweise am Flughafen beschäftigt. Jetzt will er nur noch weg. »Das hier ist nicht mehr Frankreich, das ist Krieg!«
Frankreich verlassen. Hier im Osten von Paris, direkt hinter der Ringautobahn Périphérique, sprechen viele davon. Auch Thierry Cohen-Jonathan denkt daran. Nur wenige Minuten entfernt vom Supermarkt steht er im Innenhof der Synagoge Beth Raphael in Vincennes, für die er arbeitet. Draußen stehen vier Polizisten, die schmale Straße vor dem Gebäude ist gesperrt. Am Freitag, dem Tag des Anschlags im Supermarkt, fiel am Abend der Schabbat-Gottesdienst aus, noch nie hat es das gegeben.
vorstädte Thierry Cohen-Jonathan trägt eine schwarze Schirmmütze und hat einen grauen Bart. Er erzählt mit ruhiger Stimme, dass er eine dreiviertel Stunde vorher im selben Supermarkt eingekauft hat, wie eben alle Juden der Gegend dort einkaufen.
Dass er Yohan Cohen und Yoav Hattab, die jüngeren Opfer, die beide erst Anfang 20 waren, gekannt hat. »Das waren wunderbare, sympathische Jungs.« Cohen-Jonathan meint, die Terroristen hätten vor allem zwei Ziele gehabt: »Zum einen war das ein Terrorakt gegen Blasphemie. Sie wollen klarmachen: Wer den Islam kritisiert, ist des Todes.« Zum anderen sei die Attacke für die Medien regelrecht inszeniert worden. »Die wollen möglichen Nacheiferern zeigen, wie sie vorgehen sollen.«
Cohen-Jonathan lebt mit Frau und sechs Kindern in Sarcelles nördlich von Paris. Dort gibt es viele Hochhausbauten. Im vergangenen Jahr kam es zu antisemitischen Ausschreitungen, Autos brannten, Jugendliche riefen »Tod den Juden«. »Ich bin in der Banlieue zusammen mit den maghrebinischen Einwanderern der ersten Generation aufgewachsen«, sagt der 48-Jährige. Bis Mitte der 70er-Jahre sei alles noch friedlich gewesen. »Die vielen Einwanderer aus allen Ländern haben einfach fleißig gearbeitet. Diese friedlichen Zeiten sind vorbei.«
Jetzt denkt auch er daran, Frankreich zu verlassen. Nicht in das »wunderbare Land Israel«, denn die Preise für ein Appartement dort könne er sich nicht leisten. Er möchte eher nach Kanada oder in die USA. Thierry Cohen-Jonathan ist gelernter Chocolatier. Er träumt von einem Laden, wo er seine Pralinen und Schokoladen verkauft.
im visier Auch im Pariser Osten ist Auswanderung seit Tagen Dauerthema. Direkt neben Vincennes liegt Saint-Mandé. In den vergangenen Jahrzehnten sind viele sefardische Juden aus dem Zentrum von Paris hierher gezogen – 43 Prozent der Bewohner des 25.000-Einwohner-Städtchens sind jüdisch. Es gibt vier Synagogen, Kindergärten, ein jüdisches Kulturzentrum, viele koschere Lebensmittelläden und Restaurants. Hier lässt sich gut leben. Das Erholungsgebiet Bois de Vincennes mit seinem Schloss und Zoo liegt nebenan, die Metrolinie 1 bringt einen schnell ins Pariser Zentrum.
Sabrina Scetbon sagt den Satz, den hier viele sagen: »Es ist noch lange nicht vorbei.« Die Sprecherin des Bürgermeisters sitzt in ihrem Büro im Rathaus, ein französisches und ein israelisches Fähnchen auf dem Schreibtisch. Viele im Ort fürchten, dass es schon bald weitergeht mit den Anschlägen. Dass die französische Polizei dafür nicht ausreichend gerüstet ist. »Diese Attentate konnten nicht zwei oder drei Täter organisieren, und jemand muss die auch finanziert haben.« Amedy Coulibaly, der Geiselnehmer und Mörder, habe genau gewusst, dass dieser Supermarkt für alle Juden in Vincennes und Saint-Mandé eine zentrale Anlaufstelle ist, glaubt Scetbon. »Am Freitag machen wegen des bevorstehenden Schabbats dort viele ihre Einkäufe. Es war ihm klar, dass er sein Ziel nicht verfehlen würde.«
angst Einigen jüdischen Geschäften in Saint-Mandé bleibt seit dem Anschlag ein Teil der Kunden weg. Für Sabrina Scetbon kein Wunder. »Ich habe nach dieser immensen Tragödie auch Angst, in ein koscheres Restaurant oder in ein Café zu gehen – aber ich zwinge mich, es trotzdem zu tun, ich will meine Angst besiegen.«
Spätestens nächste Woche will der Supermarkt Hyper Cacher wieder öffnen. Auch Sabrina Scetbon will wieder dort einkaufen, es gehe doch auch um die Arbeitsplätze der Angestellten. Doch viele ihrer Bekannten haben schon angekündigt, sich in Zukunft Lebensmittel lieber nach Hause liefern zu lassen.
Scetbon dreht ihr Handy um und zeigt auf den Aufkleber auf der Rückseite: »Je suis Charlie«. Es klinge vielleicht ein wenig zynisch, sagt sie. Und fragt dann: »Hätte es nur den Anschlag auf den jüdischen Supermarkt gegeben und nicht die Attacke auf Charlie Hebdo, hätte es dann diese große Mobilisierung gegeben? Wohl kaum.«
alleingelassen Sie spricht aus, was viele Juden hier denken: dass die Republik sie alleinlässt. Dass man, wie nach früheren Attentaten wie dem in Toulouse 2012, zu schnell zur Tagesordnung übergeht. »Alle Eltern fragen sich, wenn sie morgens die Soldaten vor den jüdischen Schulen sehen: Gibt es in Frankreich eine Zukunft für unsere Kinder?«
Am Abend, als es langsam dunkel wird, stehen immer noch Menschen am Hyper Cacher. Viele diskutieren miteinander. Ein Ehepaar aus einer Vorstadt kam hierher, um der Toten zu gedenken. »Ich glaube, das war leider erst der Anfang«, sagt er. »Mein Mann ist immer so pessimistisch«, widerspricht seine Frau: »Ich vertraue auf die menschliche Natur.« Dann legen sie gemeinsam eine weiße Rose auf das Blumenmeer.