Bei einer propalästinensischen Demonstration in Hannover wurden im April dieses Jahres Mitglieder der Liberalen Jüdischen Gemeinde angegriffen, nachdem diese auf antisemitische Schlachtrufe mit dem Hochhalten der Israelflagge reagiert hatten. Wie die »Welt« zuerst berichtete, ist nun ein Bußgeldbescheid bei einer der Angegriffenen eingegangen. Die Begründung: eine nicht angemeldete Demonstration.
Bei den Betroffenen handelt es sich um Rebecca Seidler, Geschäftsführerin der Liberalen Jüdischen Gemeinde Hannover und ihren Schwiegervater Michael Höntsch, ehemaliger SPD-Landtagsabgeordnete Niedersachsens. Als am 23. April die Bewegung »Palästina spricht« zu einer Kundgebung in der Hannoveraner Innenstadt aufgerufen hatte, entschieden Seidler und Höntsch diese gemeinsam zu beobachten. In der Vergangenheit waren ähnliche Demonstrationen wegen antisemitischer und antiisraelischer Hetze aufgefallen.
ANTISEMITISMUS Ob nun auch jene Kundgebung im April dem Judenhass eine Bühne bieten werde – davon wollten sich Rebecca Seidler und Michael Höntsch vor Ort ein Bild machen. Ein dieser Zeitung vorliegendes und von »Welt« in gekürzter Fassung veröffentlichtes Video belegt: Die antisemitischen Schlachtrufe auf der propalästinensischen Demonstration blieben nicht aus. Die Demonstranten riefen unter anderem »Kindermörder Israel« und bedienten damit eine uralte, antisemitische Erzählung.
Sie stammt aus dem Mittelalter, als der christliche Antijudaismus – der Vorgänger des heutigen Antisemitismus – aufkeimte. Juden wurde damals unterstellt, Ritualmorde an Christenkindern zu begehen, um ihr Blut für das Pessachfest oder andere religiöse Vorhaben zu verwenden. Andere Demonstranten hielten zudem Plakate mit Sätzen wie »Es ist kein Konflikt, es ist ein Genozid«, »Israels Scharfschütze tötet gezielt Kinder«, »Nieder mit dem Zionismus« oder »Zionismus = Rassismus« hoch.
Dem wollte sich Michael Höntsch entgegenstellen und zeigte am Rande der Kundgebung eine Israelflagge. Der 67-Jährige wurde kurz darauf von mehreren Demonstranten angegriffen, die erst versuchten, die Flagge aus seiner Hand zu zerren. Dann stieß ihn ein Mann auf den Boden. Erst als Polizeibeamte mit Pfefferspray einschreiten, zogen sich die palästinensischen Demonstranten zurück. Höntsch, der zu dem Zeitpunkt mit einem Gehstock lief und auf ein Sauerstoffgerät angewiesen war, hat offenbar daraufhin kurz das Bewusstsein verloren. Auch diese Szenen sind in dem Video zu sehen.
Seidler sagte, dass nach der Auseinandersetzung der Einsatzleiter der Polizei auf sie zugekommen sei und gefragt habe, ob sie eine Versammlung anmelden möchte. »Ich sagte: ›Ja, wenn dies zur Deeskalation beiträgt und das richtige Mittel ist‹.« Dann habe der Polizist ihr mitgeteilt, sie sei die Versammlungsleiterin einer unangemeldeten Demonstration und habe eine Ordnungswidrigkeit begangen. »Da habe ich mich schon ausgetrickst gefühlt. Ich ging davon aus, wenn mich die Polizei fragt, ob ich eine Versammlung vor Ort anmelden möchte, dass dies seine Berechtigung hat«, sagte Seidler der Jüdischen Allgemeinen.
Anschließend habe der Polizist ihre Personalien aufgenommen. Die Polizei habe sie und ihre Gruppe dann an einen nahe gelegenen Ort verwiesen. »Dieser sah aber keinerlei Polizeischutz vor. Ich habe die Versammlung daher direkt aufgelöst. Es war ja zu sehen, zu welcher Aggressivität diese Demonstranten fähig sind.«
Seidler berichtete zudem, dass sie nur mit drei Mitgliedern ihrer Gemeinde vor Ort gewesen sei. Die Versammlung mitbeobachtet hätten aber auch weitere Personen, darunter ein Politiker der Grünen sowie ein Vorstandsmitglied der Deutsch-Israelischen Gesellschaft Hannover. Somit ergab sich spontan eine Gruppe aus insgesamt etwa sechs Personen.
BUSSGELDBESCHEID Vergangene Woche bekam Seidler schließlich Post von der Polizei – ein Bußgeldbescheid in Höhe von 128,50 Euro. In dem Schreiben wird ihr eine Ordnungswidrigkeit wegen einer »Versammlung unter freiem Himmel« ohne fristgerechte Anmeldung vorgeworfen. Zudem heißt es, dass die propalästinensische Demonstration »friedlich und störungsfrei« verlief. Hetzerische oder zur Gewalt auffordernde Ausrufe seien ebenfalls nicht vernehmbar gewesen, so die Einschätzung der Polizei. Was Seidler ärgert: »Aus dem Bescheid geht nun hervor, dass erst durch unsere Anwesenheit die Provokation entstanden sei.«
Enttäuschend ist für Seidler zudem, dass gegen »Palästina spricht« nicht ermittelt wurde. Nicht nur wegen des Angriffs, sondern weil auch keine der Auflagen eingehalten worden seien. So hätten Schlachtrufe nur auf Deutsch gerufen werden dürfen, Antisemitismus und Hass waren ebenfalls explizit untersagt. Daher ärgere es sie umso mehr, dass sie nun zur Täterin gemacht werde und »diese doch sehr aggressive Gruppierung vollkommen folgenlos aus dieser Situation herausgeht«.
Das niedersächsische Innenministerium hat auf Anfrage nun Stellung zu den Geschehnissen bezogen. Es bedauere »die Vorfälle am 23. April 2022 außerordentlich, insbesondere den Umstand, dass ein früherer Landtagsabgeordneter offenbar durch Einwirkung eines palästinensischen Aktivisten auf dem Boden gestürzt ist.« Auf dem von von »Welt« ins Netz gestellten Video sei die starke verbale und in einem Fall auch körperliche Aggressivität seitens der propalästinensischen Versammlung klar zu erkennen, so das Ministerium.
ERMITTLUNGSVERFAHREN Bestätigt wurde auch, dass jener Vorfall im Mai in einer Ausschusssitzung besprochen wurde. Die Niederschrift liegt dieser Zeitung vor. Daraus geht hervor, dass gegen den Angreifer ein Ermittlungsverfahren wegen Körperverletzung und Volksverhetzung eingeleitet wurde. Auf die Frage, ob Schlachtrufe wie »Kindermörder Israel« in Niedersachsen verboten sind, hieß es: »Die Landesregierung missbilligt diese Aussage ausdrücklich. Darüber hinaus haben wir diese Frage zur juristischen Bewertung zuständigkeitshalber an das Niedersächsische Justizministerium weitergeleitet.«
Das Innenministerium wies zudem darauf hin, dass das Einleiten des Ordnungswidrigkeitsverfahrens gegen Frau Seidler nur erfolgte, weil sie der grundsätzlichen Anzeigepflicht ihrer Versammlung nicht im Vorfeld nachkam. Dies sei nun insbesondere »vor dem Hintergrund des Gesamtgeschehens« zu bedauern. Daher werde jetzt »noch einmal durch das Landespolizeipräsidium geprüft, ob in diesem Fall von einem Bußgeld abgesehen werden kann«.
Auch die Deutsch-Israelische Gesellschaft in Hannover meldete sich zu Wort: »Hier wird unter hoher persönlicher Gefahr bewiesene Zivilcourage als Ordnungswidrigkeit geahndet.« Das stehe im Widerspruch zum Kampf gegen Antisemitismus, »wie ihn Bundes- und Landespolitiker immer wieder fordern und wie er unserer Verfassung entspricht«.