In den vergangenen Monaten wurden zahlreiche Anstrengungen unternommen, das Internationale Olympische Komitee (IOC) zu veranlassen, mit einer Schweigeminute bei der Eröffnungsfeier der diesjährigen Olympischen Spiele der israelischen Sportler zu gedenken, die 1972 in München ermordet wurden – ermordet, nicht getötet.
Die Spiele, die dieses Jahr in London stattfinden, dauern 17 Tage. Das sind 24.480 Minuten. Obwohl die Antragsteller nur um eine einzige dieser Minuten bitten, müssen ihre Bemühungen wohl als gescheitert gelten. Bevor man darüber spekuliert, warum das Internationale Olympische Komitee so hartnäckig bei seiner Ablehnung verharrt, lohnt es sich, noch einmal zu rekapitulieren, was vor 40 Jahren in München genau geschah, als am Morgen des 5. September palästinensische Terroristen der Fatah-Organisation »Schwarzer September« über den Zaun kletterten.
Die Wettkämpfe wurden an diesem Dienstag bis in den Nachmittag hinein fortgesetzt. Erst nachdem ein Sturm der Kritik an seinem Vorgehen losbrach, setzte IOC-Präsident Avery Brundage die Spiele aus. Brundage, in den 30er-Jahren Präsident des amerikanischen Olympischen Komitees, war seinerzeit ein großer Bewunderer von Hitler und insistierte noch 1971, die Berliner Olympiade sei eine der besten in der Geschichte gewesen.
boykott Als eine Handvoll Amerikaner 1936 versuchte, einen Boykott der Spiele zu organisieren, kämpfte Brundage mit aller Macht gegen die Boykottbemühungen, bis er beschloss, sie als Mittel zur Geldbeschaffung zu nutzen. Sein Kalkül war, dass Juden, denen die Androhung eines Boykotts peinlich war, Geld an das amerikanische Olympische Komitee geben würden, um so dazu beizutragen, den Antisemitismus in den Vereinigten Staaten zu schwächen. Seine Rechnung ging aber offensichtlich nicht auf.
Bei der Münchner Trauerfeier, die am Mittwoch, dem 6. September, am Tag nach dem Massaker, stattfand, erklärte Brundage trotzig: »Die Spiele müssen weitergehen.« Sein Aufruf wurde vom Publikum mit Beifall aufgenommen. Die Spiele wurden in der Tat fortgesetzt, was den Reporter der Los Angeles Times, Jim Murray, zu dem Vergleich veranlasste: »Es ist, als würde man eine Tanzveranstaltung in Dachau abhalten.«
In den Jahren danach erklärten die Familien der Opfer gegenüber dem Internationalen Olympischen Komitee wiederholt, alles, was sie wollten, sei eine Gelegenheit, der ermordeten Athleten zu gedenken, die zu den Spielen gekommen waren, um das zu tun, was Athleten tun: sich im Wettkampf messen. Diese Opfer hätten es verdient, von ebenjener Organisation in Erinnerung gebracht zu werden, die sie nach München geführt hatte.
unpolitisch Wieso die starre Ablehnung seitens des IOC? Die offizielle Erklärung des Olympischen Komitees lautet: Die Spiele sind unpolitisch. Der langjährige IOC-Präsident Juan Samaranch erklärte den Familien immer wieder, die Olympische Bewegung vermeide politische Fragen. Anscheinend hatte er vergessen, dass er – Samaranch – 1996 bei der Eröffnungsfeier über den Krieg in Bosnien gesprochen hatte. Die Politik war ebenfalls bei den Sommerspielen 2002 dabei, die mit einer Schweigeminute für die Opfer des 11. September eröffnet wurden.
Den Familien wurde auch gesagt, ein Gedenken dieser Art sei unangemessen für die Eröffnungsfeier. Doch zu anderen Gelegenheiten gab es sehr wohl offizielle Gedenkminuten des IOC für Athleten, die »in Ausübung ihrer Pflicht« gestorben waren. Bei den Winterspielen 2010 zum Beispiel wurde ein Sportler, der durch einen Trainingsunfall ums Leben gekommen war, mit einer Schweigeminute geehrt.
Die Erklärung des IOC ist nichts als eine jämmerliche Ausrede. Die ermordeten Sportler kamen aus Israel, und sie waren Juden – das ist der Grund, weshalb man nicht an sie erinnert. Das Einzige, was sich daraus schließen lässt, ist: Jüdisches Blut ist billig, zu billig, um zu riskieren, einen Block arabischer Nationen und andere Länder zu verärgern, die Israel und seine Politik bekämpfen.
antisemitismus Ich warne seit Langem vor der bei einigen Juden vorherrschenden Tendenz, hinter jeder Äußerung, die Israel oder Juden kritisiert, Antisemitismus zu vermuten. Es gab in den letzten Jahren die Neigung, dem Gegner Antisemitismus vorzuwerfen, auch wenn dieser Vorwurf völlig unangemessen war. Ertönt der Antisemitismus-Ruf zu oft, besteht die Gefahr, dass niemand mehr zuhört – vor allem dann, wenn der Vorwurf berechtigt ist.
In der Frage der Gedenkminute trifft der Vorwurf allerdings absolut zu. Die Morde von 1972 sind die schlimmste Tragödie, die sich jemals während der Olympischen Spiele ereignete. Dennoch sagt das IOC in aller Deutlichkeit, dass ihm diese Opfer keine 60 Sekunden wert sind. Stellen Sie sich für einen Moment vor, es hätte sich um amerikanische, kanadische, australische oder deutsche Sportler gehandelt. Niemand zögerte auch nur einen Augenblick, ihrer zu gedenken. Doch die israelischen Sportler kamen aus einem Land und einem Volk, die es irgendwie verdient haben, zum Opfer zu werden. Ihr geopfertes Leben ist offensichtlich keine Minute wert.