Brüssel

»Ohne Juden wäre Europa nicht geworden, was es heute ist«

Die Veranstaltung ist mittlerweile zu einem festen Termin im Kalender des Europäischen Parlaments geworden, nur 2021 war sie wegen der Corona-Pandemie ins Internet verlegt worden. An diesem Donnerstag war es wieder so weit: Parlamentspräsidentin Roberta Metsola hatte die Abgeordneten zur Sondersitzung anlässlich des Internationalen Holocaust-Gedenktages geladen.

Waren es in den vergangenen Jahren Schoa-Überlebende, die die Reden hielten – 2019 Charlotte Knobloch, 2020 Liliana Segre und 2022 Margot Friedländer –, so hatte Metsola in diesem Jahr Israels Staatspräsident Isaac Herzog nach Brüssel eingeladen.

zeremonie Ob es an der Person des Gastredners lag – Israel ist vor allem bei vielen linken Europaparlamentariern Zielscheibe oftmals heftiger Kritik – oder ob die Abgeordneten Wichtigeres zu tun hatten, ist nicht bekannt. Es wurde trotz spärlich gefüllter Ränge eine würdige Zeremonie.

Herzog, der nach Schimon Peres 2013 erst der zweite israelische Präsident war, der vor dem Europäischen Parlament sprach, hielt seine gesamte Rede auf Hebräisch.

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Er begann seine Ansprache – für ein Staatsoberhaupt ungewöhnlich – mit einem Gebet zum Andenken an die Opfer der Schoa: »O Gott, der du voll Erbarmen bist, der du in der Höhe wohnst, gewähre den Seelen der sechs Millionen Juden, den Opfern des Holocaust, die von den deutschen Mördern und ihren Komplizen aus anderen Nationen getötet, erstickt, verbrannt und gemartert wurden, vollkommene Ruhe auf den Flügeln der göttlichen Gegenwart, auf den Zinnen des Heiligen und Reinen, die wie der Glanz des Firmaments leuchten. Möge der Barmherzige sie für immer in der Sicherheit Seiner Flügel beschützen und ihre Seelen mit den ewigen Banden des Lebens verbinden. Gott ist ihr Teil. Möge ihre Ruhestätte im Garten Eden sein. Und mögen sie ihr Schicksal am Ende der Tage ertragen. Lasst uns sagen: Amen.«

RHODOS Erst dann kam er zur Begrüßung seiner Gastgeberin. Herzog schilderte anschließend das Schicksal der Juden auf der Insel Rhodos während der deutschen Besatzung Griechenlands im Zweiten Weltkrieg. »Am Nachmittag des 23. Juli 1944 wurden die Juden von Rhodos gezwungen, in einer langen Reihe vor der Westmauer der Altstadt zu stehen. Den übrigen Bewohnern der Stadt war es verboten, die Stadt zu verlassen. Die Nazis waren mit der Vernichtung der glorreichen jüdischen Gemeinden von Thessaloniki und anderen griechischen Städten, in denen 98 Prozent der griechischen Juden lebten, noch nicht zufrieden. Und so wurden mehr als 1600 Juden aus Rhodos in Marsch gesetzt und unter der Führung von SS-Offizieren auf drei alte Frachtschiffe verladen.«

Herzog erzählte weiter: »Acht Tage und Nächte lang waren die Juden von Rhodos in einer albtraumhaften Reise, einer monströsen Odyssee, auf See. Es herrschte große Hitze, die Verpflegung war dürftig. Sieben Menschen kamen während der Fahrt ums Leben; ihre Leichen wurden ins Meer geworfen. Ein weiteres Schiff wurde zur Insel Kos gesandt, um fast 100 Juden aufzunehmen. Ein weiteres Schiff wurde nach Leros, einer kleinen und abgelegenen Insel, geschickt, um den einzigen dort lebenden Juden aufzuspüren. Ein einziger Mann. Das war die gesamte ›jüdische Gemeinde‹ von Leros. Ein Jude, einsam und allein – der letzte. Sein Name war Daniel Rachamim. Rachamim - das hebräische Wort für ›Erbarmen‹. Es war ein Erbarmen, das er nie erhalten hat.«

Diese scheinbar »kleine«, entsetzliche Jagd der Nazis auf einen einzigen Menschen verkörpere die Geschichte der Schoa insgesamt, betonte Isaac Herzog. »Die Geschichte der Totalität der Vernichtung, der Ausrottung, der Auslöschung, die Geschichte der monströsen, geistesgestörten Besessenheit, ein Volk vollständig auszurotten, dessen Wurzeln tief in die Geschichte reichen und das ein so untrennbarer und wesentlicher Bestandteil Europas war: das jüdische Volk.«

DNA Europa wäre ohne seine Juden nicht Europa geworden, sagte der israelische Präsident weiter. »Kann sich jemand ein Europa ohne die Theorien von Sigmund Freud, ohne das Genie von Albert Einstein oder Emmy Noether vorstellen? Gibt es ein Europa ohne den Widerhall des Denkens von Karl Marx? Wie kann man sich eine europäische Philosophie ohne Baruch Spinoza oder Henri Bergson vorstellen, oder den Geist der europäischen Kultur ohne Amedeo Modigliani und Franz Kafka? Aber der Antisemitismus hat Europa wie eine Autoimmunkrankheit dazu gebracht, einen Teil seiner eigenen DNA anzugreifen, und eine gemeinsame, jahrtausendealte Geschichte wurde ausgelöscht, als hätte es sie nie gegeben.«

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Herzog sagte, der Holocaust sei nicht in einem Vakuum entstanden, der Nährboden für Judenhass sei sehr fruchtbar gewesen. »Die stereotype Darstellung der Juden hatte in Europa schon vor dem Aufstieg des Nationalsozialismus über Jahrhunderte und Generationen hinweg Wurzeln geschlagen.« Noch bevor ein einziges Vernichtungslager errichtet worden sei, hätten die Menschen Juden bereits als »Untermenschen« wahrgenommen. »Gerade deshalb, gerade weil der Holocaust auf viel älteren antisemitischen Fundamenten beruhte, die in Europa Wurzeln geschlagen hatten und gediehen, ist dieser dunkle Abgrund eine schreckliche, tiefe und zwingende Lektion für ganz Europa.«

EXISTENZRECHT Antisemitismus gebe es nicht nur an den Rändern, sondern »auch in den Kerngebieten des freien, demokratischen Westens«, sagte Herzog den Europaabgeordneten. Und auch die Gefahr, die im Internet lauere, dürfe nicht unterschätzt werden. Er brachte es so auf den Punkt: »Der Abstand zwischen einem Facebook-Post und dem Zertrümmern von Grabsteinen auf einem Friedhof ist kürzer, als wir denken.«

Auch auf scharfe Israelkritik, die oft in die Infragestellung des Existenzrechts des Staates mündet, ging der seit Juli 2021 amtierende Präsident ein. »Sie müssen in ganz Europa das Verständnis dafür wecken, dass das Recht des jüdischen Volkes auf nationale und souveräne Selbstbestimmung heilig ist und sich in unserem demokratischen Staat, dem Staat Israel, manifestiert«, rief er den versammelten Abgeordneten zu.

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Es gebe einen sehr »schmalen Grat zwischen Kritik am Staat Israel und der Leugnung der Existenz des Staates Israel«, sagte Herzog. Kritik sei zwar statthaft, sie dürfe aber »nicht so weit gehen, dass die Existenz des Staates Israel, des Nationalstaates des jüdischen Volkes, wie er von den Institutionen der internationalen Gemeinschaft anerkannt wird, infrage gestellt wird.« Dieses Existenzrecht in Zweifel zu ziehen, sei keine legitime Diplomatie, so Herzog weiter, sondern vielmehr »Antisemitismus im wahrsten Sinne des Wortes«. Der müsse aber »gründlich ausgerottet« werden. »Die Regel ist einfach: Kritik an uns muss den grundlegenden Test der Fairness und Integrität bestehen, und sie darf nicht die Grenze zur Entmenschlichung oder Delegitimierung überschreiten.« Der Staat Israel sei »wie Phönix aus der Asche« entstanden und habe das »historische Recht der Juden auf einen Staat in unserer alten Heimat« verwirklicht, betonte Herzog.

FAMILIENFOTO Für seine Worte erhielt Herzog von den Abgeordneten stehenden Applaus. Im Anschluss enthüllte der Präsident in der Lobby des Brüsseler Plenarsaals gemeinsam mit Roberta Metsola ein Holocaust-Mahnmal. Es besteht aus dem Faksimile eines Gemäldes des jüdischen Malers Felix Nussbaum, der 1944 in Auschwitz ermordet wurde. Auf dem Bild mit dem Titel »Der Flüchtling« ist ein verzweifelter Mann zu sehen, der die Hände über dem Kopf zusammenschlägt, weil niemand ihn aufnehmen möchte. Auf dem einzigen Möbelstück des kahlen Raumes steht ein Tisch mit einem Globus. Es ist das erste Mal, dass eine EU-Institution in einem Hauptgebäude ein Denkmal für die Opfer der Schoa aufstellt.

Nach seiner Rede im Plenum nahmen sich Isaac Herzog und Roberta Metsola dann noch ausführlich Zeit, um auch mit Überlebenden und Vertretern diverser jüdischer Organisationen ins Gespräch zu kommen. Zum Abschluss posierten beiden für ein »Familienfoto«: Der 96-jährige Alberto Israel war gekommen und hatte Frau, Kinder und Enkel mitgebracht. Israel war einer von nur 150 Juden aus Rhodos, die die Schoa überlebten.

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