In dieser Woche jährte sich der Todestag von Leo Baeck zum 60. Mal. Wer sich aus diesem Anlass erneut mit seinen Schriften und seinem Wirken beschäftigt, merkt, wie gewinnbringend dies auch für unsere heutige Situation ist.
Rabbiner Leo Baeck wirkte in einer Zeit, die wir als die Blütezeit des Judentums in Deutschland bezeichnen. Es war eine Zeit, in der theologische Debatten auf höchstem intellektuellen Niveau die deutschen Juden bewegten. In welche Richtung sollte es gehen? Sollte an den orthodoxen Traditionen festgehalten werden? Oder gehörte dem liberalen Judentum die Zukunft?
Vielfalt Der Bruch durch die Schoa war jedoch so tief, dass wir in Deutschland bisher weder zahlenmäßig noch von der innerjüdischen Debattenkultur her diesen Zustand wieder erreicht haben. Es gibt aber zarte Ansätze, mit denen wir an diese Vergangenheit anknüpfen. Auch die religiöse Vielfalt innerhalb des Judentums in Deutschland hat zugenommen. Heute ist von orthodoxen über konservative bis zu liberalen Strömungen ein breites Spektrum vertreten. Diese Entwicklung betrachte ich als großes Geschenk.
Die Pluralität führt mitunter zu Auseinandersetzungen oder zu Konkurrenzdenken, sie ist dennoch gewinnbringend. Denn für eine Religion sind Debatten viel besser als Stillstand. Es ist daher zugleich wichtig, dass der Zentralrat der Juden als politischer Spitzenverband alle Richtungen des Judentums vertritt und damit die jüdische Gemeinschaft mit einer Stimme spricht. Die politische Seite schätzt es zudem, einen zentralen Ansprechpartner zu haben. Ebenso ist das Modell der Einheitsgemeinde weiterhin sinnvoll. Denn unsere Gesamtzahl von rund 100.000 Mitgliedern ist immer noch sehr überschaubar.
Um die gesellschaftlichen Herausforderungen meistern zu können, brauchen wir sowohl eine gefestigte religiös-kulturelle Identität und Selbstvergewisserung als auch Offenheit für den Dialog. Für beides wird uns Leo Baeck immer ein Vorbild sein.
Der Autor ist Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland.