War es Zufall, dass die Meldung über Abgastests an Menschen, die im Auftrag von VW und anderen Autoherstellern erfolgt sind, ausgerechnet am 27. Januar, dem Tag, an dem wir an die Befreiung des KZs Auschwitz erinnern, veröffentlicht wurde? In jedem Fall rief sie Assoziationen an die Schoa hervor: Vergasen, Menschenversuche … Dass auch Tests an Affen gemacht wurden, mobilisierte darüber hinaus jene Tierschützer, die Holocaustvergleiche nicht scheuen.
Wir sollten Vorsicht walten lassen, heutige Skandale ungeprüft mit Assoziationen an die Schoa zu verbinden und damit eine Empörung zu unterstützen, die möglicherweise den Blick auf die Wirklichkeit vernebelt.
auflagen Tatsächlich sind Tests an Menschen, etwa in der Pharmaindustrie, alltäglich. Bestimmte Wirksam- und Verträglichkeiten werden im Labor an Zellen, dann an Tieren und schließlich an Menschen erprobt. In einem demokratischen Rechtsstaat gibt es strenge Auflagen. Wer so tut, als seien die nun bekannt gewordenen Tests ein Verbrechen, das mit denen der Nazis zu vergleichen ist, blendet die Wirklichkeit aus.
Dass an die NS-Vergangenheit von VW erinnert werden muss, ist unbestreitbar. Dass den Konzern durch seine Lügen über die Diesel-Abgaswerte Konsequenzen treffen, ist folgerichtig. Hier geht es nicht darum, VW zu entlasten. Hier geht es um unsere Beurteilungsfähigkeit in einer oftmals ambivalenten Welt.
Pikuach Nefesch Das rabbinische Kriterium dafür heißt Pikuach Nefesch: Das Leben geht vor. Im Talmud begründet es, warum Lebensrettung etwa das Arbeitsverbot am Schabbat verdrängt. Heute ist es ein Prinzip für die halachische Entwicklung auf dem Gebiet der Medizin, indem etwa neue Erkenntnisse berücksichtigt werden können.
An Pikuach Nefesch müssen auch klinische Tests an Menschen gemessen werden. Dienen sie dem Leben? Halten sie sich zugleich an strenge Auflagen zum Schutz der Probanden? An diesen beiden Fragen erweist sich der ganze Unterschied.
Die Autorin ist Rabbinerin des Egalitären Minjans in Frankfurt am Main.