Dass der Trend abnehmender Zuwanderung aus der früheren Sowjetunion gestoppt ist, lässt sich aus dem jüngst veröffentlichten Migrationsbericht der Bundesregierung nicht herauslesen. Zwar steht dort: »Aufgrund der politischen Entwicklungen in der Ukraine im Jahr 2014 haben die Antragszahlen ukrainischer Staatsangehöriger wieder zugenommen.« In absoluten Zahlen jedoch lag die Zahl jüdischer Zuwanderer aus dieser Region 2014 bei 237; das ist der bisherige Tiefstwert. Im Jahr zuvor waren es 246. Der Höchststand aus dem Jahr 1997 liegt bei 19.437 Zuwanderern.
Doch die Talsohle kann überwunden sein. Bis Ende Oktober 2015 waren nämlich 298 Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland eingereist. Aron Schuster, stellvertretender Direktor der Zentralwohlfahrtsstelle des Zentralrats (ZWST), spricht schon vorsichtig von einem Wiederanstieg der Zuwanderung. »Eine fundierte Aussage darüber lässt sich aber erst im Laufe des Jahres 2016 treffen«, schränkt Schuster jedoch ein.
de maizière Am Mittwoch vergangener Woche war Bundesinnenminister Thomas de Maizière in Berlin vor die Presse getreten, um das neueste Zahlenwerk des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vorzustellen. Während das mediale Augenmerk hauptsächlich auf den Flüchtlingen aus Syrien, Nordafrika und dem Kosovo lag, wurden die Zahlen zu den sogenannten Kontingentflüchtlingen, also den jüdischen Zuwanderern aus den Staaten der früheren Sowjetunion, kaum wahrgenommen.
Über 212.000 Menschen sind seit 1990 nach Deutschland gekommen, seit der Ministerrat der DDR im Juli 1990 beschlossen hatte – bestätigt durch die Ministerpräsidentenkonferenz im Januar 1991 – Juden aus diesen Staaten aufzunehmen. Nach anderen Berechnungsgrundlagen sind es sogar mehr als 220.000 Zuwanderer.
Die Kontingentflüchtlinge besaßen, wie es in einem »Working Paper« des Bundesamtes aus dem Jahr 2005 heißt, 76 verschiedene Staatsbürgerschaften. Das Gros der Zuwanderer kommt jedoch aus Russland und der Ukraine, den größten Ländern der GUS. Im Jahr 2002 kamen sogar mehr Menschen aus der GUS nach Deutschland als nach Israel oder in die USA, den bislang bevorzugten Auswanderungszielen.
zuwanderungsgesetz 2005 trat aber das Zuwanderungsgesetz in Kraft, und die bisherige Regelung für Kontingentflüchtlinge, das »Gesetz über Maßnahmen für im Rahmen humanitärer Hilfsaktionen aufgenommene Flüchtlinge« fiel weg. Seitdem müssen jüdische Zuwanderer ihre Einreise nach Deutschland auf Grundlage dieses Gesetzes beantragen.
Dessen Paragraf 23 ermöglicht es, dass bestimmte Ausländergruppen »aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland eine Aufenthaltserlaubnis« erhalten. Darunter fallen auch weiterhin Juden aus der früheren Sowjetunion. Das Gesetz hat die jüdische Zuwanderung »erheblich erschwert«, sagt Aron Schuster und freut sich, dass im Mai 2015 endlich eine Lockerung der Zuwanderungsregelung erwirkt wurde.
Im Vergleich zu den großen Gruppen der Zuwanderung fallen die Zahlen der jüdischen Zuwanderer nicht allzu sehr ins Gewicht. Großgruppen sind oder waren die Spätaussiedler, von denen 2014 noch 5649 kamen (der Höchststand war 1992 mit 230.565 Aussiedlern), die Asylbewerber (2014: 173.072, bisheriger Höchststand 1992: 438.191, für das Jahr 2015 wird eine höhere Zahl erwartet) und die sogenannten »Bildungsausländer«, womit in der Regel Studenten gemeint sind.
bildung Die jüdische Zuwanderung weist jedoch etliche Besonderheiten auf: Die meisten Zuwanderer kommen aus größeren und mittelgroßen Städten, ihr Bildungsstand ist überdurchschnittlich hoch. Gerade naturwissenschaftliche und technische Berufe sind bei ihnen oft anzutreffen. Forscher der Fachhochschule Köln kamen 2006 zu dem Schluss, dass jüdische Zuwanderer – gemeinsam mit Spätaussiedlern – »ein wichtiges Potenzial für die Wirtschaft und Gesellschaft der Bundesrepublik« darstellen.
Was gut klingt, hatte in der Wirklichkeit den enormen Nachteil einer hohen Arbeitslosigkeit. Nach nicht mehr ganz aktuellen Zahlen sind bis zu 80 Prozent der jüdischen Zuwanderer auf staatliche Transferleistungen angewiesen, bei den in Ostdeutschland lebenden Menschen ist der Anteil sogar noch höher. Das liegt vor allem daran, dass die Anerkennung ausländischer Abschlüsse erst 2012 verbessert wurde.
Doch Günter Jek, der das Berliner Büro der ZWST leitet, ist immer noch nicht optimistisch: Die Maßnahmen der beruflichen Weiterbildung seien seit 2005 massiv zurückgefahren worden, »daher ist für die jetzigen Zuwanderer das gleiche Schicksal zu befürchten wie für viele ukrainische und russische Zuwanderer vor ihnen«.
Den Hauptanteil der Integration dieser Zuwanderer leisteten – und leisten bis heute – die jüdischen Gemeinden und die ZWST. »Perspektiven und Lösungen für und mit diesen Menschen zu erarbeiten, bleibt also weiterhin eine Schwerpunktaufgabe der jüdischen Sozialarbeit«, sagt Jek.