Herr Sznaider, die israelischen Sozialproteste sind im vergangenen Jahr friedlich verlaufen. Warum ist das jetzt anders?
Tel Avivs Bürgermeister Ron Huldai hat schon vor Wochen gesagt, dass der Rothschild-Boulevard in diesem Sommer am Wochenende eine Fußgängerzone sein solle, man also keine Zeltstadt zulassen werde wie im vergangenen Jahr. Damals sind Polizei und Stadtverwaltung völlig überrascht worden. Es fing mit zwei Zelten an, dann waren es 100, dann war das Fernsehen da, und man konnte nichts mehr machen. Es war von Anfang an klar, dass man das in diesem Jahr unterbinden würde.
Was haben die Proteste von 2011 bewirkt?
Die sind im Sande verlaufen. Die Regierung hat Versprechungen gemacht, eine Kommission eingesetzt, kostenlose Kindergärten angekündigt – aber geändert hat sich nichts. Die große Politik schaut mehr in Richtung Iran, Ägypten, Syrien.
Warum sind dann heute nicht mehr Leute auf der Straße?
Es herrscht das Gefühl, dass man sowieso nichts ausrichten kann. Und dadurch, dass der Protest angesichts unserer Megakoalition von keiner Oppositionspartei im Parlament mehr mitgetragen wird, läuft er ins Leere. Übrig ist nur der harte Kern, der politisch wird und eine milde Form der Kapitalismuskritik übt. Das funktioniert nicht in dieser Konsensgesellschaft. In dem Moment, wo man Banken die Scheiben einwirft, ist es mit der Sympathie vorbei.
Hat die Polizei nicht auch überreagiert?
Die Polizei hat die Leute ziemlich brutal verhaftet, aber die haben dann auch gesehen, dass die Fernsehkameras da sind, haben sich auf die Straße geworfen und so den brutalen Einsatz mit inszeniert. Da sind die Ordnungskräfte ein bisschen in die Falle getappt. Die hiesige Polizei geht nicht mit Samthandschuhen vor, und Proteste werden hier ziemlich gewaltvoll niedergemacht – ob das Proteste von ganz rechts sind oder von ganz links oder von Palästinensern oder Afrikanern. Wenn sie vor ein paar Jahren gesehen haben, wie die illegalen Siedlungen in der Westbank von der Polizei geräumt wurden – das ist normales Prozedere hier.
Die Demonstranten haben das Vorgehen selbst provoziert?
Sie haben versucht, die Aufmerksamkeit der Medien zu bekommen. Und wie ginge das besser, als wenn die Anführer der Proteste vor der Kamera von Polizisten verprügelt werden? Das haben sie von den rechten Siedlern gelernt, die immer wussten, einen brutalen Einsatz der Polizei mediengerecht zu inszenieren.
Hat die soziale Situation sich seit Sommer 2011 überhaupt nicht verändert?
Nein. Mieten und Preise sind noch genauso hoch. Das einzige, was in den letzten Monaten billiger geworden ist, ist – sehr wichtig für die Israelis – das Telefonieren. Das Monopol der drei großen Mobilfunkanbieter wurde gelockert, jetzt gibt es immerhin zwei weitere Konkurrenten.
Mit dem israelischen Soziologen sprach Ingo Way.