Gut ein Jahr nach der Verurteilung eines früheren Wachmannes im KZ Stutthof wird es voraussichtlich erneut einen Prozess um die Verbrechen in dem deutschen Konzentrationslager bei Danzig geben. Das Landgericht Itzehoe in Schleswig-Holstein ließ am Freitag eine Anklage gegen eine frühere Sekretärin des Lagerkommandanten zu, wie eine Sprecherin mitteilte.
Als Stenotypistin und Schreibkraft soll die heute 96-Jährige bei der systematischen Tötung von Inhaftierten Hilfe geleistet haben. Der Prozess wegen Beihilfe zum Mord in mehr als 11.000 Fällen soll am 30. September vor einer Jugendkammer beginnen, weil die Angeklagte im Tatzeitraum zwischen Juni 1943 und April 1945 erst 18 bis 19 Jahre alt war.
Ein vom Gericht in Auftrag gegebenes Gutachten war im Juni zu dem Ergebnis gekommen, dass die 96-Jährige verhandlungsfähig ist. Erst im vergangenen März hatte das Landgericht Wuppertal die Eröffnung eines Prozesses gegen einen mutmaßlichen ehemaligen SS-Wachmann in Stutthof abgelehnt. Der ebenfalls 96 Jahre alte Angeklagte sei laut ärztlichem Gutachten dauerhaft verhandlungsunfähig, teilte ein Gerichtssprecher mit. Dem Hochbetagten war Beihilfe zum Mord in mehreren hundert Fällen vorgeworfen worden.
Ein Prozess gegen einen anderen ehemaligen Wachmann in Stutthof war vor einem Jahr in Hamburg zu Ende gegangen. Das Landgericht verurteilte den 93-jährigen Bruno D. zu zwei Jahren auf Bewährung. Das Gericht sprach ihn am 23. Juli 2020 wegen Beihilfe zum Mord in 5230 Fällen schuldig - mindestens so viele Gefangene wurden nach Überzeugung der Jugendkammer während der Dienstzeit des Angeklagten von August 1944 bis April 1945 in Stutthof ermordet. 30 wurden in einer geheimen Genickschussanlage im Krematorium des Lagers getötet. Mindestens 200 wurden in der Gaskammer und in einem verschlossenen Eisenbahnwaggon mit Zyklon B umgebracht. Wenigstens 5000 Menschen starben in Folge der lebensfeindlichen Bedingungen im sogenannten Judenlager von Stutthof.
Bruno D. war 1944 als nicht fronttauglicher Wehrmachtssoldat zur Bewachung der Gefangenen abkommandiert worden. Mit einem Gewehr stand der 17-Jährige auf einem Wachturm und sah die Gräuel im Lager. Das schilderte er dem Gericht. Er betonte, dass er sich für den Einsatz nicht freiwillig gemeldet hatte. »Sie haben diesem Sterben zugesehen damals und es bewacht«, sagte die Vorsitzende Richterin Anne Meier-Göring bei der Urteilsverkündung. Der Angeklagte sei zwar ein Befehlsempfänger gewesen, aber er hätte in Stutthof nicht mitmachen dürfen. »Sie hätten versuchen müssen, sich zu entziehen, und Sie hätten sich entziehen können.«
Da die Strafe zur Bewährung ausgesetzt worden war, verzichtete der Angeklagte auf eine Revision gegen das Urteil, wie sein Verteidiger Stefan Waterkamp erklärte. Ansonsten wäre sein Mandant wohl wie jeder andere der sehr betagten Angeklagten in NS-Prozessen in Revision gegangen, sei es auch nur, um Zeit zu gewinnen. »Eine Strafvollstreckung dürften diese nämlich kaum überleben.«
Der Hamburger Prozess hatte sich über ein Dreivierteljahr hingezogen. Seit März 2020 musste unter Corona-Bedingungen verhandelt werden. Ehemalige Stutthof-Gefangene aus Polen, Israel und Frankreich berichteten von täglichen Misshandlungen, Hinrichtungen sowie von Hunger und einer Fleckfieber-Epidemie.
Für Aufsehen sorgte der Auftritt eines Zeugen aus den USA, der angab, dass seine jüdischstämmige Mutter ihn in Stutthof zur Welt gebracht habe. Der 76-Jährige erzählte seine Lebensgeschichte und umarmte schließlich in einer demonstrativen Versöhnungsgeste den Angeklagten - mit Zustimmung der Vorsitzenden Richterin.
Wochen später erschütterten jedoch Recherchen des Nachrichtenmagazins »Der Spiegel« die Glaubwürdigkeit des Zeugen. Daraufhin recherchierte auch das Gericht und fand heraus, »dass der Vortrag teilweise nicht richtig sein kann«, wie Meier-Göring sagte. Nach Ansicht eines Jura-Professors, der eine Stutthof-Überlebende als Nebenklägerin vertrat, hätte man nach zehn Minuten Internetrecherche feststellen können, dass die Darstellungen des Zeugen keinen Sinn machten.
Das Landgericht Itzehoe steht nun ebenfalls vor großen Herausforderungen: Wenn die letzten Überlebenden des Lagers erneut als Zeugen gehört werden sollen, drängt die Zeit. Kaum jemand von ihnen kann noch reisen. Die Angeklagte wird für jeden Verhandlungstag aus ihrem Altenheim in den Verhandlungssaal gebracht werden müssen. Auch der Schuldnachweis dürfte nach Ansicht von Juristen bei einer früheren Zivilangestellten schwieriger sein als bei einem Wachmann, der der SS angehörte.
Nach Angaben der Zentralen Stelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg sind derzeit neben einer weiteren Anklage gegen einen 100-Jährigen in Neuruppin noch zehn Ermittlungsverfahren bei deutschen Staatsanwaltschaften anhängig, darunter in Erfurt, Weiden, Celle und Hamburg. Gegen sechs weitere Personen, von denen die meisten in Kriegsgefangenenlagern eingesetzt waren, laufen Vorermittlungen.