Herr Klein, mehr als die Hälfte der Deutschen glaubt an Verschwörungsmythen, der Antisemitismus ist jüngst deutlich gestiegen. Was kann die Politik tun?
Was mich besonders bedrückt, ist die Anfälligkeit in der Mitte der Gesellschaft. Auf den Corona-Demos laufen bisher politisch unauffällige Bürger Seite an Seite mit Querdenkern, Esoterikern und Reichsbürgern. Antisemitische Verschwörungsmythen wirken da offenbar wie eine Art klebriger Kitt. Ich begrüße, dass der Verfassungsschutz inzwischen sehr genau hinschaut. Es muss uns aber auch noch stärker gelingen, die Zivilgesellschaft dafür zu motivieren, im Alltag Hass und Hetze entgegenzutreten.
Was sollte eine neue Bundesregierung vorrangig umsetzen?
Ich bin der Auffassung, dass mehr in eine lebendige Erinnerungskultur investiert werden muss. Wer über Anne Frank wirklich Bescheid weiß, wagt da keine Gleichsetzung mit Opfern des Nationalsozialismus. Es ist wichtig, dass hierzu im Koalitionsvertrag ein Kapitel eingefügt wird. Darüber hinaus sollte die Zivilgesellschaft gestärkt und das Gesetz zur Förderung der wehrhaften Demokratie rasch auf den Weg gebracht werden. Die Bekämpfung von Antisemitismus muss ein Querschnittsthema werden.
Laut Deutschem Richterbund werden antisemitische Beleidigungen je nach Bundesland unterschiedlich von den Staatsanwaltschaften verfolgt. Wie kann das sein?
In unserem föderalen Staatswesen ist es nicht ungewöhnlich, dass es solche Unterschiede gibt. Ich werbe jedoch dafür, dass sich die Länder über ein einheitliches Vorgehen gegen antisemitische Straftaten einigen.
Sie sind seit gut drei Jahren im Amt. Was war bislang die größte Herausforderung?
Das war sicher der schreckliche Anschlag von Halle. Er markiert einen Einschnitt: Niemand kann nunmehr die tödliche Gefahr durch Antisemitismus leugnen – und zwar für unsere gesamte Gesellschaft. Bekanntlich waren die beiden Todesopfer des Anschlags keine Juden.
Ist Deutschland heute besser gewappnet als vor zwei Jahren? Gerade die Justiz wirkt manchmal überfordert.
Die Bundesregierung hat seinerzeit schnell reagiert und nur gut drei Wochen nach dem Anschlag ein Maßnahmenpaket zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität beschlossen. Mit dem Gesetz gegen Hass und Hetze im Internet gibt es zudem ein weiteres wichtiges Instrument, um gegen Antisemitismus vorzugehen. Ich begrüße es sehr, dass etliche Staatsanwaltschaften eigene Antisemitismusbeauftragte berufen haben. Aber immer noch werden entsprechende Straftaten nicht rasch und konsequent genug verfolgt. Das muss geändert werden.
Mit dem Beauftragten der Bundesregierung für jüdisches Leben und den Kampf gegen Antisemitismus sprach Michael Thaidigsmann.