In Osnabrück hängt der Haussegen schief. Die »Friedensstadt«, in der Teile des Westfälischen Friedensvertrags von 1648 verhandelt wurden, streitet um einen prominenten Osnabrücker. Ist der 1903 geborene Jurist Hans Georg Calmeyer eine »Lichtgestalt« des Widerstands gegen die Nazidiktatur gewesen, weil er als »Rassereferent« der deutschen Besatzungsbehörde in Den Haag etwa 3500 Menschen in den Niederlanden während der deutschen Besatzung vor der Ermordung gerettet hat?
Oder ist der Mann, der als leitender NS-Verwaltungsbeamter in der »Entscheidungsstelle für Zweifelsfragen der Abstammung« wirkte, nicht auch ein Rädchen im Räderwerk der Judenvernichtung gewesen? Und wie soll der Mann geehrt werden, den die israelische Gedenkstätte Yad Vashem 1992 als »Gerechten unter den Völkern« würdigte?
Es geht um ein Konzept für die inhaltliche Ausgestaltung der ehemaligen NSDAP-Zentrale Osnabrücks, der »Villa Schlikker«.
MUSEUM Es geht um ein Konzept für die inhaltliche Ausgestaltung der ehemaligen NSDAP-Zentrale Osnabrücks, der »Villa Schlikker«. Das soll von einem elfköpfigen wissenschaftlichen Beirat kommen, den die Stadt Osnabrück 2017 berufen hat. Historiker, zwei Mitglieder des Osnabrücker Jugendparlaments und der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde der Stadt bilden den Beirat.
Für die Einrichtung eines »Friedenslabors« mit Begegnungsstätte, Museum und Tagungsräumen in der Villa Schlikker erhält die Stadt sogar 1,7 Millionen Euro Bundesgelder, die der Haushaltsausschuss des Bundestags bereitgestellt hat. Weitere 200.000 Euro muss die Stadt selbst aufbringen.
Nach Meinung der Hans-Calmeyer-Initiative (HCI) soll das Kernelement des Hauses ein Museum sein, in dem das »Rettungswerk« Calmeyers geehrt wird. Allerdings scheint die Mehrheit der Geschichtswissenschaftler innerhalb des Beirats, der sich bisher erst zweimal getroffen hat, einer musealen Zuspitzung auf die Person Calmeyer kritisch gegenüberzustehen.
»brandbrief« Sehr zum Ärger der Calmeyer-Initiative, deren stellvertretender Vorsitzender, der Historiker Joachim Castan, dem Expertengremium angehört. Mit einem »Brandbrief« an Stadtverwaltung und die Ratsparteien hat Castan im Frühjahr ordentlich Zunder in die Debatte gebracht.
»Keinerlei oder nur geringe Kenntnisse über die komplexe Calmeyer-Thematik« zu besitzen, wirft Castan, der eine Ausstellung über Calmeyer realisiert hat, den Wissenschaftlern und Gedenkstellenleitern um den Leipziger Historiker Alfons Kenkmann vor. Von »kollektiver Unkenntnis und Inkompetenz« ist die Rede.
Der Vertreter des Oberbürgermeisters, Kulturdezernent Wolfgang Beckermann, weist die Anschuldigungen Castans und der HCI entschieden zurück: »Es besteht kein Zweifel an der Fachkompetenz der Beiratsmitglieder.« Für die Stadt sei »die Unterstützung des Beirats enorm wertvoll«, um »eine angemessene, alle Aspekte berücksichtigende Konzeptlinie für die Villa Schlikker« zu gewährleisten. »Die Querelen müssen enden«, sagt Beckermann.
NAMENSGEBUNG Über die derzeitige Auseinandersetzung um die Namensgebung für das ehemalige NSDAP-Haus ist auch der Osnabrücker CDU-Bundestagabgeordnete Mathias Middelberg besorgt. Er hat 2004 über den Juristen Calmeyer promoviert und 2015 eine Biografie über ihn publiziert. »Die Fakten sind mittlerweile weitgehend unbestritten«, sagt Middelberg, der auch im Beirat sitzt: Calmeyer habe den linientreuen »Rasserechtsexperten« nur gespielt; tatsächlich habe er geholfen, Juden zu »Ariern« umzudeklarieren, und sie so »vor Verfolgung geschützt«.
Etliche Historiker haben sich aus dem Beirat zurückgezogen.
Die Beiratsmitglieder seien sich »ja ziemlich einig über das, was inhaltlich im Haus gezeigt werden soll – ausdrücklich in aller Widersprüchlichkeit und Ambivalenz«, sagt Middelberg, aber auch Calmeyers Leistung müsse man würdigen – so wie das Yad Vashem getan hat.
Unterstützung erhält er vom Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde Osnabrück, Michael Grünberg. »Calmeyer gebührt die Ehre, Juden gerettet zu haben.« Das sei an sich schon positiv und »räumt mit dem Mythos auf, dass man nichts machen konnte«. Yad Vashem hält sich indes zurück. Man sei sich »vollkommen der Komplexität von Calmeyers Aktionen bewusst« gewesen, teilt die Gedenkstätte mit. Gebe es neue Unterlagen, werde man sie prüfen.
Der Stuttgarter Geschichtswissenschaftler Gerhard Hirschfeld mahnt zu kritischer Distanz, wie es auch etliche niederländische Historiker tun. »Calmeyers Verwaltungstätigkeit war integraler Teil der Judenverfolgung in den Niederlanden«, gibt er zu bedenken. »Und das macht den Umgang auch mit seiner Person so schwierig.«
Die Historikerin Katja Happe, die sich mit der Judenverfolgung der Deutschen im westlichen Nachbarland befasst hat, sieht in Calmeyer eine ambivalente Persönlichkeit, mit Licht und Schatten. »Ohne eine offene Diskussion der Person und seiner Aktivitäten aus verschiedenen Perspektiven geht das nicht.«
RÜCKZUG Allerdings ist die Arbeit des Beirats durch Castans Brief bereits nachhaltig beschädigt. Der Beiratsvertreter der Osnabrücker Universität, der Historiker Christoph Rass, hat, nachdem es auch persönliche Anfeindungen gab, das Gremium verlassen. Auch die niederländische Historikerin Ismee Tames, Vertreterin des renommierten Instituts für Weltkriegs-, Holocaust- und Genozidstudien (NIOD), hat sich aus dem Beirat zurückgezogen.
Sie sehe »keine Grundlage mehr für einen fruchtbaren Dialog darüber, wie eine so wichtige und komplexe Person wie Calmeyer dargestellt werden könnte«. Wichtig war ihr, an diesem Beispiel »über Fragen der persönlichen Verantwortung, Mitschuld und Autonomie zu reflektieren«.
Erhebliche Schwierigkeiten aufgrund der »untragbaren Diffamierungen« für den ehrenamtlich arbeitenden wissenschaftlichen Beirat sieht auch der Vorsitzende des Gremiums, Alfons Kenkmann. Ohne eine Vertretung der niederländischen wissenschaftlichen Perspektive im Beirat werde es sehr schwierig, die Arbeit zur Villa Schlikker produktiv fortzusetzen. »Manche Protagonisten aus dem Umfeld der Calmeyer-Initiative haben einer reflektierten städtischen Erinnerungskultur in Osnabrück einen Bärendienst erwiesen«, sagt Kenkmann.